Ein letztes Mal blieb Isleen auf der Schwelle der Großen Halle stehen und wandte sich zu ihr um. Erst vor wenigen Tagen, zum Ende der Hochzeitsfeierlichkeiten ihrer Schwester Khi'LeisaH, war das Herz der Feste in seiner neuen Gestalt enthüllt worden. Damit waren die monatelangen Renovierungsarbeiten an der Feste zu einem krönenden Abschluss gekommen und Isleen musste zugeben, dass sie stolz auf das Ergebnis war. Es war vor allem die Halle gewesen, deren Neugestaltung ihr am Herzen gelegen hatte. Sie stellte das Zentrum der Feste dar, war der Hort der fünf Throne, die Stätte aller offiziellen Verkündungen und der meisten Feierlichkeiten - und sie hatte zu viel Blut gesehen. Nicht zuletzt das Blut der vorherigen Herrin der Feste, Iman'Dra von Tron'Jenar, die nur ein paar Schritte weiter mit aufgerissener Kehle ihr Ende gefunden hatte. Es war eine Überraschung für Isleen gewesen, als ihr Vater ihr danach den vakanten Posten der Herrin der Feste angetragen hatte, aber sie hatte sofort gewusst, dass sie bei einer Zusage niemals einfach nur Iman'Dras Feste übernehmen würde wie sie gewesen war. Zu diesem Versprechen, das sie sich selbst gegeben hatte, hatte sie gestanden und hatte entsprechend gleich nach ihrer Ernennung mit der Planung und Durchführung der Umgestaltung begonnen.
Der alte Steinboden der Halle war aufgeschlagen und die oberste Schicht entfernt worden. Eine mühselige Arbeit, auf die Isleen jedoch bestanden hatte. Nie wieder sollte jemand über denselben Stein laufen, über den das Blut Tron'Jenars geflossen war, sei es Iman'Dras oder das früherer Toter. Ersetzt worden war er mit einem Mosaikboden, welcher in den äußeren Bereichen des Raumes in gediegenen Farben begann. Je mehr er jedoch auf die Mitte der Halle zuging desto häufiger blitzten glänzend grüne Steine hindurch bis diese schließlich einen zarten Kreis um das Zentrum bildeten. In diesem Zentrum war aus kleinsten, fein geschliffenen und auf Hochglanz polierten Steinfragmenten das genaue Abbild des Wappens Tron'Jenars geformt worden. Die schweren Holztische und -bänke waren säuberlich abgeschliffen, in einem tiefdunklen Braun lackiert und neu arrangiert worden. Sie hatten ihren Platz an beiden Seiten der Halle gefunden und umfingen das Wappen sowie den Weg zu den Thronen, deren Platz als einziger derselbe geblieben war. Trotz aller Veränderungen war es Isleen wichtig gewesen, einen Eindruck von Stabilität und Beständigkeit aufrecht zu erhalten für alle, die die neue Halle zu Gesicht bekommen würden und kein Detail war wohl so aussagekräftig in dieser Hinsicht wie die Throne der Fürstenfamilie selbst. Die steinernen Wände der Halle waren in ihrer Natürlichkeit belassen, jedoch getüncht worden, sodass sie in einem hellen Silbergrau erstrahlten, welches den gesamten Raum viel größer und höher erscheinen ließ als zuvor, nicht zuletzt deutlich gemacht durch den Kontrast zu den absichtlich dunkel gehaltenen, glänzenden Holzmöbeln. Das größte Wunderwerk aber mochte die neue Verglasung der Fenster darstellen. In der Tradition L'Lal'Lorias war Isleen auf den Gedanken gekommen, Tron'Jenars größte Geschichten und Persönlichkeiten durch Bilder darzustellen, die in den bunten Farben der Fenster verewigt worden waren. Ganz links begann die Chronologie mit der Gründung des Hauses durch Hagne'Ktarr und BasH'Uta auf Thul Saduun, gefolgt von der Neugründung auf Auriga II. Die beiden Fenster zeigten die Urgründer, danach die ersten großen Fünf D'Ankwar, Nina, SoHra'Jan, Mogh'Tar und Iman'Dra und die dazugehörigen Planeten. Ein respektvoller Tribut an die Vergangenheit. Das Fenster im Zentrum, welches hinter den Thronen zu finden war, war indes zeitlos und sollte Tron'Jenars Natur widerspiegeln. Es zeigte die Feste und einen Strom von Wesen aller Spezies, die auf Tron'Jenars Boden lebten, welcher auf sie zuhielt und Tron'Jenar damit als das auswies, was es war: Ein Hort der Zuflucht und Freiheit. Das vierte Fenster, zur rechten Seite des Raumes hin gelegen, zeigte erneut Gestalten der Fürstenfamilie: Die der Kinder der ersten großen Fünf, die mit viel Sorgfalt in ein gemeinsames Bild aus buntem Glas gefasst worden waren. In der Mitte fanden sich der Älteste, Prinz Corum, an seiner linken Seite Prinzessin Ssihanna, neben dieser Prinzessin Dara'Jan. An Corums rechter Seite seine Schwester, Prinzessin Khi'LeisaH und neben dieser Isleen selbst. Vor den erwachsenen Kindern des Hauses standen derweil vier Jüngere. Ein großer Blondschopf mit einem verschmitzten Lächeln, dem Ssihanna und Dara'Jan jeweils eine Hand auf die Schulter gelegt hatten - Prinz Arju'Tai. Khi'LeisaHs Hände ruhten derweil auf den Schultern des ältesten der drei gezeigten weißhaarigen Kinder, der kleinen Prinzessin Rhaenys. Sowohl sie als auch ihre beiden Geschwister wirkten in diesem Bild älter als sie es zu diesem Zeitpunkt bereits waren. Isleen hatte sich das Aussehen ihrer drei Kinder, die auch Mogh'Tars Kinder waren und damit in dieses Bild gehörten, anzeigen lassen, um ihnen ein deutlicheres Gesicht geben zu können. Und so hielt sie darauf schließlich die Hände ihrer älter dargestellten Zwillinge, Prinz Lucerys und Prinzessin Visenya, was das Bild der neun Nachkommen der ersten Fünf komplettierte. Das letzte Fenster ganz rechts zeigte derweil kein direktes Bild. Stattdessen war ein Schriftzug in die bunten Scheiben gefasst. Dieser sagte:
"Aus zwei wurden viele, aus einem Traum Wirklichkeit.
Vereint, ungebrochen, stark, steht das Haus der Freiheit."
Nach einem letzten, langen Rundblick durch die Halle nickte Isleen schließlich einmal still für sich und atmete gleich darauf tief durch. Zwei große Feiern hatte sie organisiert neben der Renovierung der Feste. Man könnte also meinen, ihre Feuertaufen habe sie im Amt bereits bestanden, aber sie wusste sehr wohl, dass dem nicht so war. Zumindest nicht zur Gänze. Denn heute, vier Tage nach dem Ende der Hochzeitsfeierlichkeiten, würde sie auf ihre erste Tributreise gehen. Etwas, das sie von nun an alle paar Monate tun würde, um die Pacht und Abgaben auf den Ländereien der Provinz einzusammeln, denen die Fürstenfamilie vorstand. Zugleich jedoch war sie auf jener ersten Reise dazu eingeladen und angehalten, die Häuser der Präfekten aller anderen Provinzen ebenfalls zu besuchen und somit ihr Debüt als Herrin der Feste zu geben. Sie ahnte voraus, dass ihr dieser Teil ihrer Aufgaben am schwersten fallen würde. Harte Arbeit, Unannehmlichkeiten und Anstrengungen waren ihr nicht fremd und sie hatte in all den Jahren, in welchen sie keine andere Wahl gehabt hatte, eine bemerkenswerte Resilienz und Ausdauer entwickelt, jedoch fehlte es ihr an Können und Übung, wenn es darum ging, sich zu präsentieren. Jahrelang hatte sie sich darin perfektioniert, unsichtbar zu sein, kaum mehr als ein Schatten. Es war schwer, nun das Gegenteil zu werden, selbst auf Zeit. Aber sie hatte diesen Teil ihres Loses akzeptiert, als sie sich als Herrin der Feste verpflichtet hatte und sie hatte nicht vor, ihre neue Familie zu enttäuschen.
Lärm drang vom Innenhof durch das offene Tor hinein, auf das sie nun mit langsamen Schritten zuhielt. Laute Stimmen riefen sich Befehle, Grüße und Scherze zu. Sporen und Rüstungen klirrten und schepperten, während Krieger und Bedienstete eilig hin und herliefen, um die letzten Handgriffe zu erledigen, die der Tross benötigte, um aufbrechen zu können. Ein Baby weinte und Isleen wusste sofort, dass es eines der ihren war, als sie durch das Tor hinaustrat und kurz die an das Halbdunkel der Feste gewöhnten Augen verengte, als das Sonnenlicht sie traf. Sie hob eine Hand, um für einen Moment Schatten auf ihr Gesicht zu legen und als sie den Tross nun sehen konnte, ließ sie den Blick über diesen schweifen. Innerlich war sie beeindruckt von all den Kriegern in ihren Rüstungen, den Wagen und Pferden, auch wenn ihr Gesicht unbewegt blieb. Die Gerüche von Feuer, Leder, Tier und irgendetwas Essbarem lagen in der Luft und es war Isleen, als fühle sie sich ein wenig schwindelig von all den Eindrücken, der Geschäftigkeit und dem Flirren in ihrer Magengegend, das von ihrer Aufregung zu erzählen wusste. Sie sah Mogh'Tar am Beginn des Trosses stehen, an sein mächtiges Pferd gelehnt, laut scherzend und lachend mit einigen der anderen Krieger. Khi'LeisaH, ihre liebe Schwester und deren neuer Ehemann Ashitaka, die sich beide bereit erklärt hatten, sie zu begleiten, anstatt sofort auf Hochzeitsreise zu gehen, waren damit beschäftigt, ihre Satteltaschen festzuschnallen und aus der Ferne sah es aus, als seien sie miteinander verschworen so wie sie flüsterten, doch Isleen wusste nach all der Zeit bei den Sternenfahrern, dass Verliebte und Verschworene sich zuweilen sehr ähnlich sahen.
Das Weinen des Babys riss nicht ab und holte Isleen aus ihren Beobachtungen zurück. Rasch stieg sie nun die Stufen zum Innenhof hinab und als ob ihre plötzliche Bewegung erst dafür gesorgt hätte, dass man sie bemerkte, nahmen die Krieger Haltung an und erwiesen ihr den Kriegergruß als sie an ihnen vorbeiging. Sie trug zum heutigen Anlass eine eigens gefertigte Rüstung aus weichem weißen Leder, abgesetzt mit leichter silberner Schuppenpanzerung an einigen Stellen. Dies war allerdings gering gehalten worden, da ihre Stärken in der Beweglichkeit, nicht in der Kraft lagen. Auch ihr Umhang war eher praktisch als opulent, reichte ihr lediglich bis zu den Hüften und wies die grüne Farbe des Hauses Tron'Jenar sowie das eingestickte Wappen auf. An ihrem Waffengurt trug sie ihre Wurfdolche sowie eine ihrer Pistolen, die ihre Mutter ihr gegeben hatte. Auch in diesem Punkt war sie gewiss nicht die typische Kriegerin in schwerer Rüstung und Schwert, sondern eher eine Fernkämpferin mit tödlicher Zielgenauigkeit. Ihr weißblondes Haar war geflochten und für den Ritt hochgebunden worden. So schritt sie in entsprechender Montur an den Kriegern vorbei und hin zu der Kutsche, in der ihre sechs Monate alten Zwillinge gerade untergebracht wurden. Lucerys jedoch schien nicht allzu glücklich über den Aufruhr zu sein und schrie unglücklich bis Isleen ihn in die Arme nahm und ein paar Schritte mit ihm ging, während sie ihn wiegte und so leise summte, dass nur ihr kleiner Sohn es hören konnte. Sie wusste, dass die beiden sich beruhigen und durch das Schaukeln der Kutsche bald einschlafen würden, sobald sie unterwegs waren. Und während sie mit ihm umherging, hatte sie in diesem Moment keine Augen für den Tross und alle, die um sie herumschwirrten. Wer auch immer nun auf sie zukommen würde, würde sie wohl überraschen.