Beiträge von Sanju-Aneya Fey

    Sanju hatte zwischenzeitlich Ssihannas Bett für etwa eine Stunde verlassen, da man zu einer kurzen Besprechung aller Squadmitglieder aufgerufen hatte, die in der Lage waren, sich auf den Beinen zu halten. In dieser hatte sie erfahren, dass man General Jones über die Umstände benachrichtigt hatte und sie sich auf dem Weg hierher befand. Bis sie von Shepard aus eintraf, gab es jedoch nichts, was man tun konnte außer zu hoffen und zu beten, dass Eric und Sloan nicht im Sterben lagen oder gar schon tot waren. Zwar wurden Suchtrupps ausgeschickt, doch die Squad hatte zunächst zu bleiben wo sie war, was zumindest Gelegenheit zur Erholung der Verletzten bot.
    Mit diesen ausgesprochen trüben Gedanken hatte sie sich zurück auf die Krankenstation begeben. Ihr waren die Hände gebunden, sie hatte aber auch so gar keine Befugnis mit irgendwem auf diesen Planeten zu gehen, um nach den beiden Vermissten zu suchen. Offiziell war sie nicht einmal zurück im Dienst. Und so hatte sie sich in ihr Schicksal gefügt und nach einem kurzen Gespräch mit Sinaida beschlossen, die Nacht einfach hier auf der Krankenstation zu verbringen. Für den Fall, dass Ssihanna aufwachte, würde es sicher gut sein, wenn jemand bei ihr war, der ihr vertraut war - ganz abgesehen davon, dass Sanju selbst so unglaublich gerne mit ihrer besten Freundin sprechen würde. Sie war eine derjenigen gewesen, die ihr in den letzten Monaten am meisten gefehlt hatten.
    Der freundliche Doktor hatte Verständnis gezeigt, als sie darum gebeten hatte, hier bleiben zu dürfen und ihr von irgendwoher einen weich gepolsterten Stuhl besorgt, von dem Sanju ihm versichert hatte, dass er vollkommen ausreichen würde. Einige Stunden hatte sie dann bei der Schlafenden gesessen und ihr leise so manche Sache erzählt, die sie selbst erlebt hatte - freilich ohne zu wissen, ob Ssihanna sie würde hören können. Doch das machte nichts, war vielleicht gar nicht wirklich der Punkt. Vielleicht musste sie sich einige Dinge schlicht selber einmal sagen hören, ganz egal, ob es eine Antwort geben würde oder nicht.
    Als aus dem Abend allmählich Nacht geworden war, hatte die Müdigkeit sie jedoch verstummen lassen. Immerhin war sie heute Morgen noch eine Geisel gewesen und all die Ereignisse, die sich über Tag förmlich überschlagen hatten, forderten ihren Tribut. Irgendwann, als sie sich nur einen Augenblick in ihrem Stuhl hatte zurücklehnen wollen, war sie wohl eingeschlafen. Dass der Doktor die Decke über sie legte, bekam sie schon nicht mehr mit, schmiegte sich nur ganz automatisch in deren weiche Wärme ein und schlief weiter. Nicht einmal die Uniform hatte sie ausgezogen, auch nach dem Briefing nicht. Sie war sich nicht sicher gewesen, ob sie sie wieder anziehen würde, hätte sie es getan. Noch immer nicht.


    "Sanju!!!" Ein kurzer Adrenalinstoß weckte sie auf, gleichzeitig damit, dass jemand ihren Namen rief. So tief sie auch geschlafen haben mochte, sobald sie ein wenig wacher wurde wusste sie gleich, dass etwas nicht in Ordnung war, etwas anders war, als es sein sollte. Es war wie ein beklemmendes, ein wenig bedrückendes Gefühl beim Aufwachen, wobei sie noch nicht ganz zuordnen konnte, was dieses Gefühl genau auslöste. Sie fuhr auf, blinzelte kurz verwirrt und sah sich dann Ssihanna und dem Arzt gegenüber. Schlagartig fiel ihr wieder ein, was geschehen war und als sie sah, wie ihre Freundin mit den Tränen kämpfte und sehr kurz davor stand, diesen Kampf zu verlieren, sprang sie auf. "Oh Gott, Ssi... was ist denn los?" Bang sah sie zu dem Arzt mit der sehr validen Befürchtung, er habe eine schlechte Prognose für Ssihanna gehabt, die sie so aus der Fassung brachte. Doch so wie Sanju sie kannte, musste das schon eine sehr arge Prognose sein, wenn die Reaktion so stark war. Doch der Arzt lächelte nur, machte Sanju Platz, die Ssihanna daraufhin erstmal in die Arme schloss und wandte sich dann um. "Ich lasse Sie beide dann mal allein... ich denke, Sie haben sich einiges zu erzählen", meinte er schmunzelnd und ließ eine vollkommen verwirrte Sanju zurück, die sich dann allerdings sofort der recht aufgelösten Ssihanna zuwandte. "Hey... Hey, Süße, wein doch nicht... es ist so schön, dass du aufgewacht bist... was hast du denn nur? Sind die Schmerzen so stark? Oder hatte der Arzt schlechte Nachrichten?" All das sprudelte sofort aus ihr heraus, während sie sie festhielt und ihr sanft über den Rücken strich. Jede weitere Frage verbiss sie sich dann allerdings erst einmal, um ihr Gelegenheit zur Antwort zu geben.

    Als Sanju die Krankenstation betrat, nahm sie sofort die für einen solchen Ort so typischen Geräusche wahr. Sie kannte sie seit ihrer Kindheit, in der sie viele Stunden malend oder Hausaufgaben machend im Büro ihrer Mutter verbracht hatte. Mit einer gewissen Regelmäßigkeit hatte sie sich außerdem vor etwa einem Jahr wieder an diese Geräuschkulisse gewöhnen müssen, als sie selbst für Wochen auf verschiedenen Krankenstationen gelegen hatte, um sich von dem Virus, seinen Spätfolgen und der anschließenden Herztransplantation zu erholen. Einen kurzen Moment beobachtete sie das Gewusel des Personals, bewunderte dabei ihre leise Effizienz. Sie fand es recht faszinierend, wie Leute in der Lage dazu waren, komplexe Aufgaben in fast völliger Stille zu verrichten. Still sein hatte nie zu ihren Stärken gezählt und sie hatte den Lärm, die Geschäftigkeit und auch durchaus das Geschrei des Bootcamps immer gemocht. Doch die Ausbildungszeit lag schon eine ganze Weile zurück und sie hatte wichtigeres zu tun, als davon zu träumen.
    Mit diesem Gedanken gab Sanju sich einen Ruck und ging weiter in den Raum hinein. Auf verschiedenen Biobetten sah sie ihre verletzten Teamkameraden liegen, um sie herum Schwestern und Ärzte, zuweilen in ernste Gespräche vertieft. Als zwei von ihnen sich von einem der Biobetten entfernten, erhaschte Sanju einen klaren Blick auf Ssihanna. Erschrocken zog sie die Luft ein. Die Freundin, die sie vor so kurzer Zeit erst das erste Mal seit fast einem Jahr wieder umarmt hatte, sah so elend aus als sei sie sich noch nicht ganz sicher darüber, ob sie diesen Tag zu überleben gedachte. Um sie herum standen Monitore, die alle möglichen Werte anzeigten, der Ganzkörperscanner des Biobetts fuhr in regelmäßigen Abständen über sie hinweg und ein Gerät neben ihr schien ihren Brustkorb rhythmisch aufzupumpen.
    Gerade als Sanju zu ihr hinüber sah, meinte diese allerdings zu sehen, wie Ssihanna blinzelte, für einen Moment nur die Augen öffnete und ihre Lippen sich bewegten, bevor ihr die Augen wieder zufielen, woraufhin Sanju nicht lange zögerte. Mit zwei schnellen Schritten war sie an ihrem Bett. "Ssi...?", flüsterte sie, wobei sie sich zu ihr hinab beugte und ihre beiden Hände um Ssihannas linke Hand schloss. "Kannst du mich hören? Ich bin's... Sanju..." "Verzeihen Sie, Sergeant... was denken Sie, was Sie da tun?", forschte eine beflissene Stimme nach und als Sanju notgedrungen aufsah, sah sie auf der anderen Bettseite einen der Ärzte stehen. "Ich... ich wollte nur nach ihr sehen. Sie hat die Augen geöffnet, ich hab es gesehen... ich dachte...", begann Sanju, beendete den Satz jedoch nicht, als sie sah, wie der Arzt sich ob ihrer Worte den Werten zuwandte. "Hmm... hmm...", gab er immer wieder von sich. "Die Werte zeigen an, dass sie schläft... zumindest die Bewusstlosigkeit hat sich scheinbar verflüchtigt." Er lächelte breit und sah wieder zu Sanju, sah hinab auf die umschlossenen Hände. "Eine Freundin, hmm?" "Die beste...", erwiderte Sanju und hob ein wenig gequält einen Mundwinkel. "Können Sie mir sagen, wie es ihr geht? Ich weiß, Sie dürfen nicht ins Detail gehen, aber... irgendwas? Bitte?" Der Arzt sah sie an, dann kurz zu Ssihanna und wieder zu Sanju zurück. "Sie ist jetzt zumindest stabil", meinte er dann schließlich nach einem Moment des Schweigens. "Sie hat einiges an Blut verloren und der Schuss hat ihre Lunge eingeschränkt. Es wird heilen, aber auf einen Einsatz geht sie in nächster Zeit nicht." Sanju schürzte die Lippen, nickte aber dann. So sah sie auch nicht aus. "Danke, Doktor... darf ich einen Moment bei ihr bleiben?" Der Arzt brummte ein wenig unschlüssig. "Ein paar Minuten. Es ist ohnehin ausgesprochen unwahrscheinlich, dass sie so bald aufwacht. Aber leisten Sie ihr ruhig einen Moment Gesellschaft." Er nickte ihr zu und wollte sich gerade abwenden, als Sanjus Stimme ihn noch einmal zurückhielt. "Doktor?" Er sah sie ein weiteres Mal an. Fragend, abwartend. "Sie... wird nicht sterben, oder?" Bei dieser Frage lächelte er ein beruhigendes Lächeln. "Nein. Jetzt nicht mehr."
    Sanju atmete auf und lächelte ihm leicht zu. Dann setzte sie sich einen Moment an die Bettkante. Nach wie vor hielt sie Ssihannas Hand in ihren beiden Händen. "Hey, Ssi...", sagte sie leise. "Wird mal wieder Zeit, dass wir uns ohne Krankenakte unterm Arm sehen, oder? Sonst denken sie nachher noch, wir wären bemitleidenswert...", versucht sie ein wenig Galgenhumor, der ihr allerdings misslang. Sie merkte es selbst. Seufzend hielt sie inne, kurz versucht, ihrer schlafenden Freundin von den Vermissten und ihren Sorgen zu erzählen. Doch sie verwarf es. Wer wusste schon, welcher Teil von Ssihanna sie möglicherweise hören konnte... sie wollte sie nicht unnötig belasten und aufregen. "Ich hab dich wirklich vermisst...", sagte sie stattdessen leise, schluckte und schloss dann die Augen, bevor sie den Kopf senkte und leise zu beten begann. Für Ssihanna. Für Wayne. Für Eric. Für Sloan.

    Sanju schnappte nach Luft, als sie auf der Delta Force One rematerialisierte. Hektisch sah sie sich auf der Plattform um und erkannte ihre verletzten Teamkameraden um sich herum. Denn das waren sie noch immer, ob sie gerade im aktiven Dienst war oder nicht. Mit einem Blick stellte sie allerdings fest, dass es nicht alle waren. Zwei von ihnen fehlten. "Eric!!", hörte sie da auch gleich hinter sich den verzweifelten Schrei von Nadie. Sanju fuhr zu ihr herum. Offensichtlich war sie okay, zumindest auf den ersten Blick, doch Sanju hatte Mina DeLacy noch nie so blass gesehen wie in diesem Moment. In einer reflexartigen Bewegung wollte sie auf den Kommunikator tippen, um auf der Krankenstation nach Hilfe zu rufen, doch natürlich trug sie keinen. Sie atmete tief durch und sah zu dem Corporal, der sie an Bord geholt hatte und der die schwer mitgenommene Truppe erschrocken anstarrte. "Worauf warten Sie, Mann?! Fordern Sie ein medizinisches Team an!", fuhr sie ihn wütend an. "Und wenn Sie schon dabei sind..." Dabei kroch sie zu Ssihanna und sah besorgt auf den bereits von Blut durchweichten Stoff, mit dem sie versucht hatte, die Schusswunde zumindest temporär unter Kontrolle zu bekommen, damit ihre Freundin ihr nicht unter den Händen verblutete. Auch ein Blick zu dem bewusstlosen Druid ließ sie nichts Gutes ahnen. "... dann fordern Sie einen Notfalltransport auf die KS für die beiden an!", beendete sie ihren Satz im harschen Befehlston.
    Corporal Larish wusste kaum, wie ihm geschah, als diese merkwürdig aussehende Bajoranerin in den schmutzigen, zerrissenen Zivilkleidern ihn plötzlich derart anherrschte. Schlicht aufgrund der Notlage, die er auch erkennen konnte, rief er die Krankenstation und orderte ein MO-Team heran. Bei dem Befehl bezüglich der Notfallstransporte hob er jedoch die Brauen. "Tut mir leid, Miss... Zivilisten sind nicht befugt, solche Befehle zu erteilen. Ein medizinisches Team wird gleich vor Ort sein, sich um alles Weitere kümmern und dann entscheiden. Gedulden Sie sich bitte so lange."
    Sanju starrte ihn einen Moment wortlos an, schlicht nicht in der Lage zu erfassen, was sie gerade gehört hatte. Nicht, weil er sie für eine Zivilistin hielt, das war aufgrund ihres Aufzugs kaum anders möglich. Aber dass er bereit war, Leute für eine Formalität sterben zu lassen, trieb ihr den Puls nach oben. Langsam kam sie auf die Beine. "Okay, Corporal... vielleicht hab ich mich nicht klar genug ausgedrückt. Sie kontaktieren jetzt sofort nochmal die Krankenstation und fordern einen Notfalltransport für diese beiden schwer verletzten Marines an! Denn wenn auch nur einer der beiden wegen ihrer Nutzlosigkeit und Trödelei auf dieser Plattform verreckt, dann wird Ihnen First Sergeant Fey..." Dabei zeigte sie auf sich selbst "... die Eier wegschießen und Ihnen Ihre Streifen zum Nachtisch verabreichen! Hab ich mich jetzt klar ausgedrückt?!" Larish wurde eine Spur bleicher. DAS war First Sergeant Fey? Natürlich kannte er ihren Namen. Seit der Sache auf Corsho, die durch alle Medien gegangen war, kannte jeder ihren Namen. "Aye!", bringt er schnell hervor und betätigt einmal mehr seinen Kommunikator. Ein paar Sekunden später verschwanden sowohl Ssihanna als auch Wayne und Sanju schloss erleichtert die Augen. Nun waren nur noch Nadie und Starlight bei ihr, die zumindest beide bei Bewusstsein waren, auch wenn Nadie offensichtlich einen Schock erlitten hatte und immer wieder Erics Namen leise wiederholte. Glücklicherweise kam das Med-Team allerdings ein paar Minuten später herein, um die drei zu behandeln. Als sie zu ihr kamen, winkte Sanju jedoch ab. Nein, sie war nicht verletzt. Aus welchem Wunder heraus auch immer, aber weder bei der Geiselnahme noch bei dem Schusswechsel hatte sie auch nur einen einzigen Kratzer abbekommen. Kurzentschlossen wandte sie sich daraufhin plötzlich abrupt vom Geschehen im Transporterraum ab und verließ diesen, um die Gänge des Schiffes entlang zu gehen. Sie kannte es gut, hatte oft genug Einsätze damit selbst bestritten. Und genau darum ahnte sie auch, wo sie ihre Schwester finden würde.


    ***** 15 Minuten später *****


    "Du tust das Richtige, June", hörte Sanju Sinaida sagen, die hinter ihr stand, während sie sich selbst in Uniform im Spiegel betrachtete. Sie schluckte. "Ich muss", erwiderte sie. "Das war kein Zufall. Meine Squad taucht auf, während wir von diesen Separatisten gefangen gehalten werden? Gerade meine Leute? Welchen Gott ich auch immer in den letzten Monaten gesucht und vielleicht gefunden hab, gerade schreit er mich an. Und wenn es auch nur die geringste Chance gibt, dass Eric und Sloan noch leben, dann muss ich nach ihnen suchen. Sloan hat sein Leben und seine Karriere für mich riskiert, genauso wie Ssihanna und Wayne. Und was Eric angeht... er..." "Er ist eben Onkel Eric", antwortete Ida ruhig. Es war ihre Art. Kaum etwas schien sie aus der Fassung bringen zu können. "Du hast vollkommen recht. Du musst gehen. Und du willst gehen. Ich seh es dir doch an. Dein Rückzug vom Corps die letzten Monate war vielleicht nötig, aber weiter gebracht hat er dich nicht. Sagt man nicht, es gibt so etwas wie einen Ex-Marine nicht?", fragte sie und Sanju hob einen Mundwinkel an. "Man sagt so Manches, nicht wahr?", erwiderte sie nur und wandte sich dann zu der Jüngeren um. "Bleib hier auf dem Schiff, hier bist du sicher. Und wenn ich, warum auch immer, nicht zurückkomme, dann sag... sag ihr..." Ida nickte nur. "Du wirst es ihr selbst sagen. Endlich." Sie beide wussten, wer 'sie' war. Sanju schürzte nur einen Moment die Lippen, nickte irgendwann schließlich, umarmte Ida noch einmal und verließ dann das Quartier, um die Krankenstation anzusteuern. Sie musste wissen, wie es den Anderen ging und ob es eine Chance gab, mit ihnen auf die Suche nach den beiden Vermissten zu gehen oder nicht.

    Es war tiefe Nacht geworden, als plötzlich ein Licht auf Sanju zukam. Sie befand sich noch immer draußen, noch immer an jenem Weidenzaun, an dem sie sich schließlich zu Boden hatte gleiten lassen. Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Wie so oft in den letzten Wochen und Monaten war ihr jegliches Zeitgefühl abhanden gekommen. Kurz davor in der klirrenden Kälte einzudösen, holte das Licht sie zurück ins Hier und Jetzt und sie starrte darauf, einen Moment nicht sicher, ob sie träumte. Einen Moment in dem Gefühl versunken, etwas Ähnliches schon einmal erlebt zu haben...
    Doch als das Licht näher kam, erkannte die junge Frau, dass jemand es trug und es nicht nur frei in der Dunkelheit schwebte. Sie wurde wacher und als Marjorie durch Nebel und klamme Luft hindurch an sie heran trat, begegneten sich im Licht der Taschenlampe ihre Blicke. Die Ältere schnaubte, während sie in das blasse Gesicht ihrer Enkelin schaute. Seit Stunden musste das Mädchen hier draußen sitzen und es war deutlich sichtbar, dass sie geweint hatte. Am liebsten würde sie sie sofort mit sich ins Haus nehmen, doch etwas sagte ihr, dass der kurze Weg wohl bereits ausreichen mochte, um Sanju ihre Mauern wieder nach oben fahren zu lassen. Sie war ihrer Mutter so ähnlich.
    "Rutsch rüber", sagte sie von daher nur und wo ihre Wortwahl rau klingen wollte, da war ihre Stimme sanft. Dann ließ sie sich neben sie sinken und legte ihnen beiden eine breite, warme Wolldecke um, nur um Sanju im Anschluss in den Arm zu nehmen und an sich zu ziehen. Sie war kalt wie der Tod. "Gott im Himmel, Kind... hast du dieses Jahr noch nicht genug Zeit auf Krankenstationen verbracht? Musst du es drauf anlegen?", seufzte sie und drückte Sanju einen Kuss aufs Haar. Mit der freien Hand öffnete sie eine Thermoskanne mit heißem Kaffee und goss eine Tasse ein, die sie ihr reichte. "Hier, trink... das wird dich aufwärmen."
    Sanju ergriff die Tasse mit klammen Fingern und nahm einen vorsichtigen Schluck. Der heiße, würzig-süße Geschmack des gezuckerten, starken Getränks breitete sich in ihrem Mund aus und sie schloss die Augen, einen wunderbaren Moment lang von einem Wohlgefühl umfangen, dass sie genoss. Sie glaubte nicht, dass Kaffee ihr schon einmal so gut geschmeckt hatte wie gerade jetzt. Unwillkürlich schmiegte sie sich noch ein wenig enger an Marjorie an, deren Wärme sie ebenso nötig hatte wie die Nähe, die sie ihr gab. "Es tut mir leid", flüsterte sie leise und meinte damit nur bedingt ihre Fahrlässigkeit was ihren Gesundheitszustand betraf. Sie hätte ihre Großmutter nicht einfach so in der Küche sitzen lassen dürfen. Hätte nicht stundenlang fortbleiben dürfen. Hätte sich denken müssen, dass sie sich Sorgen machen würde und bei Nacht, Nebel und eisigen Temperaturen nach ihr suchen würde. Es war nicht fair, ihr all diese Strapazen zuzumuten, nur weil sie, Sanju, nicht mit ihrem Leben zurecht kam. Doch wieder spürte sie nur Marjories Hand in ihrem Haar, ihr beruhigendes Streicheln. "Ich weiß", antwortete sie schlicht, nur um sofort weiterzusprechen. Sie hielt sich nicht auf an Entschuldigungen. "Nun sieh dir diesen Sternenhimmel an! Ist er nicht fantastisch?" Fasziniert sah sie hinauf und Sanju folgte ihrem Blick. Sie hatte recht, der Himmel spannte sich wundervoll und wolkenlos über ihnen aus und die Gegend war einsam genug, sodass keine Lichter in der Umgebung die Gewalt des Sternenhimmels schmälern konnten. "Du solltest die Sterne einmal im All sehen...", meinte Sanju leise. "Das werde ich", erwiderte Marjorie. "Eines Tages, wenn du mich mitnimmst."
    Sanju schloss die Augen und nahm noch einen Schluck Kaffee. Da war sie wieder, die Realität. Nichts verkörperte sie so sehr wie die Rückkehr ins All. Nach Shepard. Zur Familie. In die Forces. Marjorie indes hörte es überdeutlich, das laute Schweigen des Mädchens. Früher, vor dieser schrecklichen Angelegenheit, hatte sie sie bei Besuchen auf der Ranch immer bestürmt, einmal mit ihr ins All zu kommen. Sie hatte ihr unbedingt alles zeigen wollen, was es dort oben zu sehen gab, doch nie hatten sie den rechten Zeitpunkt gefunden. Und nun schien Sanjus Feuer auch dafür erloschen zu sein. "June...", sprach sie sie nun leise mit dem Kosenamen an, den Familie und Freunde seit ihrer frühesten Kindheit kannten. "Du musst damit aufhören, hörst du? Diese Blase aus Taubheit und Schweigen, die du um dich herum aufbaust, wird dir nur schaden. Ich weiß, dass du dich schuldig fühlst an dem, was geschehen ist. Aber du kennst deine Mutter. Sie trifft ihre eigenen Entscheidungen. Anouk hätte vielleicht dasselbe getan ohne dass du infiziert worden wärst. Nur um diese armen Kranken zu heilen." Sanju schüttelte den Kopf. "Nein, hätte sie nicht", antwortete sie leise. "Sie wäre wütend gewesen. Sie hätte mit Eric gestritten und versucht, ihren Platz dort zu behaupten, aber... sie hätte dieses Schiff nicht gestohlen. So etwas hat sie nie getan. Sie hätte an ihre Pflichten gedacht und an Elli und Jamie und was es für sie bedeutet hätte..." "Elli und Jamie sind gut versorgt", warf Marjorie ein. "Sie haben Donnie und er hat mir erzählt, dass Ida sich sehr liebevoll um die beiden kümmert." "Aber sie haben Mum nicht. Und es ist wirklich, wirklich bescheiden, wenn sie nicht da ist. Sie hat so eine Art, die... die uns alle zusammenhält."
    Nun war es Marjorie, die schwieg. Es war noch immer das Kind, das aus Sanju sprach, wenn es um Anouk ging und natürlich lag viel Wahres darin. Es wäre ungerecht und falsch, Anouk als schlechte Mutter zu bezeichnen. Das war sie nicht. Doch Marjorie wusste, dass ihre Schwiegertochter auch alles andere als ein Musterbeispiel der Tugend war und dass es genügend Situationen gegeben hatte, in denen ihr Sohn Donnie die Familie getragen hatte und nicht Anouk. Doch Sanju machte gerade genug durch. Diese Themen musste sie nicht mit ihr besprechen. Es würde zu nichts führen außer zu Frust und Marjorie wusste, dass es Donnie nicht gefallen würde, wenn sie mit einem der Kinder darüber spräche. "Sie ist nicht für immer fort, June. Es sind nur noch acht Monate und die Zwillinge können sie sehen, wenn es zu Besuchen zu ihr geht. Die Situation mag so dreckig sein, wie sie will, aber sie wird vorüber gehen und sie werden es überstehen. Sie alle. Und du auch. Der Herr wird darüber wachen."
    Wieder blieb es einen Augenblick lang still. "Er antwortet mir nicht...", brachte Sanju irgendwann leise hervor. "Ich bete, aber... er antwortet nicht." "Oh doch", erwiderte ihre Großmutter und strich dabei über ihren Arm. "Er antwortet immer. Nur nicht so, wie wir es vielleicht erwarten oder uns erhoffen. Vielleicht hat er schon geantwortet und muss dir erst noch die Augen dafür öffnen. Weißt du... viele machen den Fehler zu sagen: Gott, ich habe ein großes Problem. Und dann erwarten sie eine Hilfestellung wie ein Patentrezept. Aber so ist es genau verkehrt herum gedacht." Ihre Tonfall war beschwingt und voller aufrichtiger Wärme, während sie darüber sprach. Sie wirkte weder tadelnd noch belehrend, sondern eher erfreut und dabei in sich ruhend, ihre eigenen Erfahrungen mit Sanju zu teilen. Diese runzelte die Stirn. "Was wäre die richtige Art?", forschte sie nach. Auch sie hatte ein Gebet immer für genau das gehalten. "Die richtige Art", antwortete Marjorie "ist zu sagen: Problem, ich habe einen großen Gott." Sie lächelte. "Er sieht dich, June. Wenn du in der Gewissheit ruhst, dass es so ist, dann weißt du, dass er in deiner Ecke ist und dass die Antworten kommen werden. Sei ganz ruhig. Es werden sich neue Türen öffnen. Es hat einen Grund, dass du am Leben bist. Deine Mum mag begnadet sein auf ihrem Gebiet, doch die Chancen dieses Wirtstier zu finden, waren verschwindend gering. Dein Dad hat es mir erzählt. Wer, denkst du, hat seine Hände darüber gehalten, dass es gelingt?" Sanju ließ es sich durch den Kopf gehen und spürte, wie auf Schlag weitere Fragen in ihrem Kopf auftauchten, doch sie stellte sie nicht. Es gab bereits genug, worüber sie nachdenken musste. Ein kurzes Lächeln huschte jedoch über ihre Züge, was Marjorie bereits zufrieden machte. "Und jetzt komm, gehen wir ins Haus. Es ist spät und meine Füße frieren ab." Sie rappelte sich auf und zog Sanju auf die Füße, deren Glieder nach all den Stunden so steif waren, dass sie sich erst einlaufen musste, um schließlich halbwegs sicheren Schrittes zum Haus zurückzukehren. "Ein heißes Bad und ein Bett, das brauchst du jetzt", brummte Marjorie und bevor Sanju protestieren konnte, war sie schon im Bad verschwunden, um ihrer Enkelin das Wasser vorzubereiten.

    "Sanju, Liebes, du ißt ja gar nichts", ertönte die sanfte Stimme Marjorie Santoros, die sich über den Tisch neigte und die Hand ihrer Enkelin mit ihrer großen, warmen Hand umschloss. "Geht es dir nicht gut?" Sanju, die bisher eher unbeteiligt in ihrer Suppe gerührt hatte, zuckte zusammen bei der plötzlichen Berührung und sah auf. Ihr Körper spannte sich an, nur um sich langsam wieder zu entspannen, als sie in das freundlich lächelnde Gesicht der älteren Frau blickte.
    Marjorie war Donnies Mutter, ein wahrer Seelenmensch und auch wenn sie nicht Sanjus leibliche Großmutter war, so hatten sie und ihre Geschwister sich doch alle im gleichen Maße wohlfühlen können auf ihrer Ranch in Montana, als sie noch Kinder gewesen waren. Es war nie ein Unterschied gemacht worden zwischen den Zwillingen Elena und Jamie, die Donnies und Anouks gemeinsame Kinder waren und den beiden älteren Mädchen, die Anouk bereits mit in die Ehe gebracht hatte.
    Vor vier Monaten, nachdem die Gerichtsverhandlung ob der sehr skandalösen und tragischen Geschichte auf Corsho vorbei gegangen war und man Anouk für die Straftaten, die sie wissentlich und willentlich begangen hatte, zu einem weiteren Jahr Haftstrafe verurteilt hatte, hatte Sanju um eine Freistellung bei den Forces gebeten, die ihr zunächst für ein halbes Jahr gewährt worden war. Unstet und unruhig wie selten in ihrem Leben, hatte sie Shepard daraufhin den Rücken gekehrt und war nach Terra gereist ohne recht zu wissen, was sie dort eigentlich suchte. Nur fort gewollt hatte sie von all den Leuten, die wussten, was geschehen war, die sie anstarrten und hinter ihrem Rücken über ihre Krankheit und über ihre 'cardassianische' Mutter tuschelten und so hatte sie sich, da es ihr an einem Plan gefehlt hatte, fürs Erste bei Marjorie einquartiert und dort bisher vier ihrer sechs freien Monate verbracht. Ohne dass es sie einen Schritt weiter gebracht hätte.
    "Sanju? Geht es dir gut?", hakte Marjorie noch einmal nach und schürzte die Lippen, als die junge Frau mit einem einfachen Nicken und einem vagen zustimmenden Ton antwortete. "Ah, Bullshit!", fluchte sie und Sanju hob die Brauen. "Seit vier Monaten sitzt du hier und sagst kaum ein Wort, ißt nicht vernünftig, gehst stundenlang spazieren ohne Begleitung..." "Ohne Begleitung?", fiel Sanju ihr ins Wort und ihre Brauen wanderten noch ein wenig höher. "Ehrlich, Grandma, das klingt als wolltest du mir eine Anstandsdame verpassen, um zu sehen, ob ich auch ja keinen Unsinn anstelle. Oder als hättest du Angst, dass mich jemand entführt in der weiten, einsamen Landschaft von Montana..." "Mach dich nicht über mich lustig und versuch nicht, das Thema zu wechseln!", schimpfte Marjorie. Ihre dunkle Stimme dröhnte durch die Küche und mit einer energischen Handbewegung strich sie sich die von grauen Strähnen durchzogenen Rastalocken zurück. "Allein bist du, nur in deinem Schneckenhaus und brütest vor dich hin, schon seit du angekommen bist!" "Das ist nicht wahr!", fuhr nun auch Sanju auf. "Ich gehe zur Kirche... das weißt du." Sie senkte den Blick, sich durchaus im Klaren darüber, dass dies zur Zeit tatsächlich die einzige Tätigkeit war, bei der sie irgendeine Art von sozialen Kontakten pflegte. "Ja... das tust du", stimmte Marjorie zu. "Und es freut mich, dass es dir Freude macht dorthin zu gehen, aber... Baby, das kann doch nicht alles sein. Seit der Gerichtsverhandlung verkriechst du dich hier. Versteh mich bitte nicht falsch, ich danke Gott für jeden Tag, den du bei mir verbringst, aber als du hier ankamst sagtest du mir, es sei nur für eine Weile, höchstens zwei Wochen, bis du dir im Klaren darüber bist, wo du hinwillst. Du sagtest, du bräuchtest eine Pause von deinem Job und von allem, was passiert ist und das verstehe ich. Das haben wir alle verstanden. Nur... dich hier zu verstecken, wird dich in keiner deiner Entscheidungen weiterbringen, die du treffen musst."
    Sanju lauschte ihr mit gesenktem Blick, brennenden Wangen und stoischem Schweigen, welches weiterhin anhielt, auch nachdem Marjorie ihren Redefluss beendet hatte. Nach einem Moment des Schweigens seufzte diese tief auf. "Na gut. Okay. Hast du wenigstens mit deiner Familie gesprochen? Mit deinem Vater? Deinen Geschwistern? Oder hast du vor, deine Mutter einmal zu besuchen?" Bei diesem Satz schien ein Ruck durch Sanju zu fahren und sie hob den Blick, starrte ihre Großmutter für einen Augenblick an und erhob sich dann in einer plötzlichen, schnellen Bewegung. Ohne ein Wort zu sagen, verließ sie die Küche und das Haus und schlug die Holztür geräuschvoll hinter sich zu. Eisiger Wind wehte ihr entgegen, es war bereits dunkel und schon in den Herbstmonaten schmeckte man in Montana den Winter in der Luft. Sanju atmete tief durch, strich sich mit einer fahrigen Bewegung das Haar aus dem Gesicht und nach hinten und begann schließlich zu laufen. Erst in langsamem Jogger-Tempo, doch irgendwann steigerte sie ihre Geschwindigkeit und rannte durch die Dunkelheit. Einzig das Mondlicht gab ihrer Umgebung Konturen und ließ sie ihren dampfenden Atem vor den tauben Lippen sehen. Sie wusste nicht, wohin sie wollte, nur weg von Marjorie, ihrem guten Zureden, ihrer plakativen Besorgnis und ihren versteckten Spitzen. Weg von ihr, weil sie sich den Wahrheiten, die sie auf sie einprasseln ließ, nicht stellen wollte. Nicht stellen konnte. Sie wollte nicht daran erinnert werden, dass ihr Leben ins Leere lief, während sie die Hände im Schoß gefaltet hielt und nichts dagegen unternahm. Wollte nicht wissen, was man um sie herum für Erwartungen an sie stellte - ein Besuch, ein Anruf, irgendeine Art von Lebenszeichen. Entscheidungen jeglicher Art, die sie nicht zu treffen bereit war. Und vor allem wollte sie nicht an ihre Mutter erinnert werden, die ihretwegen in diesem Gefängnis saß. Deren Ruf und Karriere ihretwegen zerstört waren und die sich in einem föderativen Gerichtssaal nach über zwanzig Jahren treuem und gewissenhaftem Dienst in der Sternenflotte als cardassianische Spionin beschimpfen lassen musste. Sie hatte sie seit diesem Tag, der nun beinahe vier Monate zurücklag, nicht mehr gesehen und auch davor seit Corsho nicht mehr, da sie zu krank gewesen war, um ihre Mutter in der U-Haft zu besuchen. Nie zuvor hatte es eine Zeit in ihrem Leben gegeben, in denen sie sich so lange nicht gesehen, nicht miteinander gesprochen hatten und Sanju wusste, dass ihre Mutter auf sie wartete. Und doch brachte sie es einfach nicht über sich, ihr unter die Augen zu treten.
    Nicht weil sie ihre Vorwürfe fürchtete, oh nein, sie wusste, es würde keine geben. Anouk würde sich freuen, sie zu sehen. Doch allein die Vorstellung dabei zusehen zu müssen, wie ihre Mutter in einem Gefängnisoverall und in Handschellen zu ihr geführt wurde, ließ ihr übel werden. Von Anfang an hatte Sanju sich über ihre Wünsche hinweggesetzt. Anouk hatte nie gewollt, dass ihre Tochter dem Marine Corps beitrat, hatte immer befürchtet, dass es einmal ein schlimmes Ende nehmen würde. "Wenn du diesen Weg einschlägst, wirst du irgendwann einmal den Preis der Soldaten zahlen müssen", hatte sie ihr gesagt. "Der Krieg hat nichts heldenhaftes oder poetisches an sich. Und Soldaten sterben oder kommen als menschliche Wracks zurück. Zur Schlachtbank geführt von Leuten, die danach nichts mehr davon wissen wollen, dass es Befehle dieser Art gegeben hat. Der Preis der Soldaten ist die Leere in den Augen - so oder so." Sanju erinnerte sich an diese Worte, hörte sie in der kalten Nacht in Montana so klar und deutlich, als stünde Anouk neben ihr und flüstere sie ihr erneut zu.
    Damals, als sie sie zum ersten Mal gehört hatte, hatten sie sie wütend gemacht. Sie hatte nichts hören wollen von den Weisheiten ihrer Mutter, von ihren Erfahrungen mit Kriegen seit ihrer frühesten Kindheit. Bei ihr würde alles ganz anders sein, da war sie sich sicher gewesen. Abgesehen davon: Donnie, Eric, Angel und so viele Andere, die Sanju seit ihrer Kindheit gekannt hatte, waren erfolgreiche und hochdekorierte Soldaten und bei keinem von ihnen hatte sie leere Augen entdeckt. Sie war sich sicher gewesen, dass ihre Mutter übertrieb, ihr nur ihre Karriere in den Forces nicht gönnen wollte wegen ihrer eigenen Aversion gegen diese. Und der Beginn ihrer Laufbahn in der Squad schien ihr in dieser Annahme recht zu geben, denn es hätte nicht viel besser laufen können. Stark und geschickt war sie schnell in den Rängen aufgestiegen, hatte Freunde und gute Kameraden gehabt, war beliebt gewesen und sich so sicher, dass dies der Weg für sie war, ganz gleich was ihre Mutter dazu zu sagen hatte.
    Doch dann war Corsho geschehen und der Tod in greifbare Nähe gekommen. Ob durch das Virus und seine Spätfolgen oder die Bomben, die man auf die Kolonie hatte werfen wollen - kein Ausweg hatte sich aufgetan, um sie und die anderen Infizierten zu retten außer dem, den Anouk sich ertrotzt hatte. Sie war es am Ende gewesen, die den Preis für Sanju bezahlt hatte und sie fürchtete sich. Fürchtete sich davor, in den Augen ihrer Mutter die Leere vorzufinden, vor der diese sie immer gewarnt hatte.
    An einem der Zäune, die die Weiden abgrenzten, hielt sie nach etwa einem halben Kilometer schließlich keuchend an. Ihr Herz, das nicht mehr das ihre war, schlug schnell und ihr war schwummerig vom Sauerstoffmangel nach dem Lauf, was sie zu einem bitteren, schnaubenden Lachen verleitete. "Kondition: Mangelhaft...", urteilte sie schwer atmend und fuhr sich mit einer Hand durch das Gesicht. Sie schwitzte trotz der Kälte. "... Juniper", fügte sie nach einer langen Pause schließlich flüsternd hinzu und so ungebeten wie unwillkommen stiegen ihr Tränen in die Augen. Gehörte dieser Name, ihr Forces-Rufname, noch zu ihr? Er klang so fremd in ihren Ohren, so falsch und doch so zwingend mit ihr verbunden. Sie war einmal Juniper gewesen und sie war es gern gewesen. Doch jetzt war sie gelähmt von Angst nach allem, was sie erlebt hatte.
    Sie hob den Blick gen des offenen Sternenhimmels über ihr, während die Tränen ihr über die Wangen strömten und auf diesen kalt wurden. "Was soll ich tun...?", flüsterte sie. "Bitte, Herr... ich weiß nicht, was ich tun soll... bitte gib mir ein Zeichen..." Ihre Hand wanderte langsam zu der Kreuzkette, die Donnie ihr einmal geschenkt hatte nach jenem Einsatz im klingonischen Internierungslager. Sie erinnerte sich daran, an diesem Tag zum ersten Mal Zweifel an ihrem Weg in die Forces gehabt zu haben. Es war lange her, sie war noch ein Private gewesen. Doch sie hatte die Stimme des Zweifels in sich zum Schweigen gebracht. Wenn auch ganz offensichtlich nicht endgültig.
    Noch immer blickte sie gen Himmel. Ihr Gottvertrauen schien das Einzige zu sein, was ihr noch geblieben war. "Ich weiß nicht, wohin ich gehen soll", betete sie leise weiter. Ihre Stimme zitterte. "Aber hier kann ich nicht mehr bleiben und nach Hause kann ich auch nicht gehen. Noch nicht. Nicht so, nicht ohne irgendeine Antwort. Bitte, hilf mir. Bitte sag mir, wohin ich gehen soll. Bitte..."

    Erschöpft lag Sanju auf dem Biobett der Krankenstation auf Shepard und schloss die Augen, während sie versuchte zu Atem zu kommen. Vor etwas mehr als einer Woche war sie noch eine junge Forclerin gewesen, um deren Fitnessgrad sie sogar manch anderer Marine und sicher viele Sternenflottenoffiziere beneidet hätten. Jetzt schaffte sie es nur mit Mühe von einem Bett ins andere ohne um Atem ringen zu müssen.
    Gerade erst hatte sie den Transport von der Quarantänezone auf Corsho hinter sich gebracht, wo sie die letzte Woche hatte zubringen müssen, ebenso wie alle anderen Infizierten, die zwar durch das Antiserum auf dem Weg der Besserung gewesen waren, jedoch noch nicht stabil genug, um transportiert zu werden. Abgesehen davon hatte man sie alle unentwegt getestet, um festzustellen, ob noch eine Ansteckungsgefahr von ihnen ausging oder nicht. Erst als man absolut sicher gewesen war, dass der Virus eingedämmt war, hatte man ihnen die Erlaubnis erteilt, sich nach Hause verlegen zu lassen.
    Dieser Transport war jedoch weitaus anstrengender gewesen, als Sanju vermutet hatte. Sie hatte sich geweigert, sich von einem Bett auf das andere heben zu lassen und war die paar Schritte in das medizinische Shuttle gelaufen, vor das man sie mit einem mobilen Biobett gebracht hatte. Das hatte sie allerdings bereits soweit an den Rand der Erschöpfung gebracht, dass alleine das Aufstehen, Setzen und erneute Hinlegen einige Stunden später nach ihrer Ankunft auf Shepard, wo sie noch einmal das Bett hatte wechseln müssen, gereicht hatte, um sie nun quasi sofort wieder einschlafen zu lassen, obwohl sie bereits auf dem Flug die meiste Zeit über geschlafen hatte.


    Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als sie neben sich eine Gestalt spürte. Zunächst gab sie nicht viel darum, es würde eine Krankenschwester sein, die ihren Zustand überwachte oder ein Arzt, der sie scannen wollte. In der letzten Woche hatte sie sich daran gewöhnt, sich von so etwas nicht im Schlaf stören zu lassen. Sie war sowieso meistens viel zu müde, um sich dafür zu interessieren, was sie mit ihr taten. Erst als sie spürte, dass sich jemand zu ihr auf die Bettkante setzte und sanft ihre Hand ergriff, öffnete sie die Augen einen Spalt. Und sah ihrer Schwester Sinaida ins Gesicht.
    Sanju gab einen erstickten Laut von sich, eine Mischung aus Freude und Erleichterung, die gedämpft wurde durch den Kloß, der sich in ihrem Hals bildete, als die Tränen in ihr aufstiegen und Sinaidas ernstes, ebenmäßiges Gesicht vor ihren Augen verschwamm. Sie quälte sich so schnell sie konnte in eine halb sitzende Haltung, was sofort dafür sorgte, dass ihr schwummerig wurde und fiel ihrer Schwester in die Arme, die sie fest an sich drückte. "Ida...", brachte sie zittrig hervor. "Wie schön dich zu sehen... bitte, du musst mir alles sagen, was passiert ist. Auf Corsho haben sie mir nur gesagt, dass die... die Squad verhaftet wurde... und... und Mum..." Sie brach in Tränen aus, es war ihr einfach zu elend, als dass sie sich noch hätte beherrschen können. "Scht... beruhig dich, June, sonst werfen sie mich gleich wieder raus, weil du dich so aufregst. Ich musste schon ein bisschen Überzeugungsarbeit leisten, um dich überhaupt sehen zu dürfen... scht...", flüsterte Ida leise und der ruhige Ton in ihrer Stimme, der ihr schon immer zu eigen gewesen war - wohl ein Erbe ihrer teilweise vulkanischen Abstammung - ließ Sanju tatsächlich ein wenig entspannen. Ida konnte unter ihren Händen spüren, wie ihre Schwester schwerer wurde, als die Anspannung nachließ. Es war offensichtlich, dass ihr das Sitzen aus eigener Kraft Mühe bereitete. "Komm, leg dich zurück. Ich stellte das Bett hoch, dann können wir reden." Dankbar lehnte sich Sanju an, als Ida selbiges getan hatte. Diese wandte sich um und nahm eine abgedeckte Schüssel zur Hand. Als sie sie öffnete, dampfte es verheißungsvoll. "Ich hab dir Suppe gekocht und mitgebracht", erklärte Ida, als sie Sanjus verständnislosen Blick sah, und baute einen kleinen Tisch vor ihr auf dem Bett auf, damit sie essen konnte. "Danke...", murmelte Sanju langsam und musterte die Suppe. Sie wusste nicht so recht, ob ihr überhaupt der Appetit danach stand. "Aber das hättest du nicht machen müssen, Ida. Denkst du, sie geben mir hier nichts zu essen?" "Doch, bestimmt", erwiderte Ida und setzte sich wieder an die Bettkante. "Aber weißt du nicht mehr, was Mum uns immer gesagt hat, wenn wir als Kinder krank waren? Wenn wir sie gefragt haben, wann die Medikamente wirken und wir wieder gesund sind?" Sanju hob den Blick von der Schüssel und sah ihre Schwester an. Und sie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte, als sie sie an diese Kindheitstradition erinnerte, die sie bereits beinahe vergessen hatte. "Dass Medikamente immer nur in Kombination mit Suppe richtig wirken...", flüsterte sie leise. "Und wir haben ihr geglaubt, weil sie die Ärztin war und es wissen musste. Selbst wenn wir nur eine kleine Sache hatten, hat sie uns Suppe gemacht, wenn sie von der Arbeit kam..." "Und ich konnte doch nicht zulassen, dass deine Medikamente nicht richtig wirken, wo du so krank warst. Mum würde wollen, dass ich dir Suppe koche...", antwortete Ida ebenso leise und zum ersten Mal hörte Sanju ein leichtes Zittern in ihrer Stimme.
    Eine kleine Weile schwiegen sie beide, während Sanju sich dazu zwang, ein paar Löffel der Suppe zu sich zu nehmen. Sie war heiß und köstlich, ein bajoranisches Rezept, sie kannte es gut. Ida war bisher die Einzige in der Familie, die das Kochtalent ihrer Mutter geerbt hatte. "Wie geht es dir, June?", durchbrach ihre Stimme schließlich erneut die Stille. "Sie sagen, ich brauche ein neues Herz", erwiderte Sanju tonlos. "Dass der Virus meines zu sehr beschädigt hat. Sie haben bisher nicht operiert, weil ich noch zu geschwächt war, aber sie sagen, dass sie es bald tun müssen. Sonst versagt es. Aber so kritisch ist es im Moment wohl noch nicht. Ein wenig Zeit bleibt noch. Und jetzt sag mir bitte, was mit Mum und meiner Squad passiert ist." Sinaida war eine Spur bleicher geworden bei Sanjus Eröffnung über ihren Gesundheitszustand und zögerte sichtlich, ihrem Wunsch zu entsprechen. "June, ich weiß nicht, ob das jetzt der richtige Zeitpunkt ist, wenn es dir so schlecht geht. Ich..." "Ida! Sag mir, was los ist! Niemand will den Mund aufmachen, aber ich MUSS es wissen, verstehst du das nicht? Wo auch immer sie jetzt sind, niemand kann mir weismachen, dass sie nicht zu einem Großteil meinetwegen dort sind!" "Schon gut, schon gut, reg dich nicht so auf. Du bekommst ganz blaue Lippen." Tatsächlich war Sanju bereits wieder ein wenig atemlos aufgrund ihres kleinen Ausbruchs. "Okay, ich bin ganz ruhig", versicherte sie leicht keuchend. "Aber erzähl. Bitte."
    Und das tat Sinaida schließlich auch. Sie erzählte Sanju alles, was sie wusste. Dass ihre Squad und ihre Mutter wohl ein Schiff gestohlen hatten, um das Wirtstier für das Antiserum zu finden, dass sie auf ihrer Flucht die Delta Force One beschossen hatten, was zu Verletzten und Toten geführt hatte und dass sie somit aufgrund mannigfaltiger Vorwürfe zur Zeit in Untersuchungshaft saßen und auf ihre Verhandlung warteten. Und dass zumindest ihre Mutter keinen Besuch erhalten durfte. Wie es bei den Squadmitgliedern war, wusste Sinaida nicht. "Sie haben diese 2000 Kranken gerettet", meinte Ida am Ende tonlos. "Und Gott oder die Propheten oder wer auch immer mag wissen, welche Strafen sie trotzdem erhalten."
    Sanju schwieg. Mit großen Augen starrte sie auf die halb gegessene Schüssel Suppe ohne sie wirklich zu sehen. Sie war beängstigend bleich und wirkte um Jahre gealtert. Sinaida stand auf. "June, das hier ist nicht deine Schuld. Sie haben alle ihre eigenen Entscheidungen getroffen. Du weißt, dass Mum sich nie in irgendetwas hat reinreden lassen. Niemand wird dir einen Vorwurf machen. Niemand." Sanju antwortete ihr nicht darauf. "Ich bin sehr müde", sagte sie stattdessen leise. "Ich glaube, ich muss ein bisschen schlafen. Kommst du morgen wieder?" Erst jetzt hob sie den Blick zu ihrer Schwester, die langsam nickte. "Natürlich. Dad kommt dich auch besuchen, spätestens morgen. Und vielleicht Elli und Jamie, wenn dich so viel Besuch nicht zu sehr anstrengt." Sie nahm den kleinen Tisch vom Bett und ließ es heruntersinken bis Sanju bequem liegen konnte. "Sag ihnen, dass ich sie lieb habe", murmelte Sanju und schloss die Augen. Nach einem Moment hörte sie Ida weggehen. Und obwohl ihre Augen geschlossen blieben, konnte sie doch für eine sehr lange Zeit nicht einschlafen.