"Sanju, Liebes, du ißt ja gar nichts", ertönte die sanfte Stimme Marjorie Santoros, die sich über den Tisch neigte und die Hand ihrer Enkelin mit ihrer großen, warmen Hand umschloss. "Geht es dir nicht gut?" Sanju, die bisher eher unbeteiligt in ihrer Suppe gerührt hatte, zuckte zusammen bei der plötzlichen Berührung und sah auf. Ihr Körper spannte sich an, nur um sich langsam wieder zu entspannen, als sie in das freundlich lächelnde Gesicht der älteren Frau blickte.
Marjorie war Donnies Mutter, ein wahrer Seelenmensch und auch wenn sie nicht Sanjus leibliche Großmutter war, so hatten sie und ihre Geschwister sich doch alle im gleichen Maße wohlfühlen können auf ihrer Ranch in Montana, als sie noch Kinder gewesen waren. Es war nie ein Unterschied gemacht worden zwischen den Zwillingen Elena und Jamie, die Donnies und Anouks gemeinsame Kinder waren und den beiden älteren Mädchen, die Anouk bereits mit in die Ehe gebracht hatte.
Vor vier Monaten, nachdem die Gerichtsverhandlung ob der sehr skandalösen und tragischen Geschichte auf Corsho vorbei gegangen war und man Anouk für die Straftaten, die sie wissentlich und willentlich begangen hatte, zu einem weiteren Jahr Haftstrafe verurteilt hatte, hatte Sanju um eine Freistellung bei den Forces gebeten, die ihr zunächst für ein halbes Jahr gewährt worden war. Unstet und unruhig wie selten in ihrem Leben, hatte sie Shepard daraufhin den Rücken gekehrt und war nach Terra gereist ohne recht zu wissen, was sie dort eigentlich suchte. Nur fort gewollt hatte sie von all den Leuten, die wussten, was geschehen war, die sie anstarrten und hinter ihrem Rücken über ihre Krankheit und über ihre 'cardassianische' Mutter tuschelten und so hatte sie sich, da es ihr an einem Plan gefehlt hatte, fürs Erste bei Marjorie einquartiert und dort bisher vier ihrer sechs freien Monate verbracht. Ohne dass es sie einen Schritt weiter gebracht hätte.
"Sanju? Geht es dir gut?", hakte Marjorie noch einmal nach und schürzte die Lippen, als die junge Frau mit einem einfachen Nicken und einem vagen zustimmenden Ton antwortete. "Ah, Bullshit!", fluchte sie und Sanju hob die Brauen. "Seit vier Monaten sitzt du hier und sagst kaum ein Wort, ißt nicht vernünftig, gehst stundenlang spazieren ohne Begleitung..." "Ohne Begleitung?", fiel Sanju ihr ins Wort und ihre Brauen wanderten noch ein wenig höher. "Ehrlich, Grandma, das klingt als wolltest du mir eine Anstandsdame verpassen, um zu sehen, ob ich auch ja keinen Unsinn anstelle. Oder als hättest du Angst, dass mich jemand entführt in der weiten, einsamen Landschaft von Montana..." "Mach dich nicht über mich lustig und versuch nicht, das Thema zu wechseln!", schimpfte Marjorie. Ihre dunkle Stimme dröhnte durch die Küche und mit einer energischen Handbewegung strich sie sich die von grauen Strähnen durchzogenen Rastalocken zurück. "Allein bist du, nur in deinem Schneckenhaus und brütest vor dich hin, schon seit du angekommen bist!" "Das ist nicht wahr!", fuhr nun auch Sanju auf. "Ich gehe zur Kirche... das weißt du." Sie senkte den Blick, sich durchaus im Klaren darüber, dass dies zur Zeit tatsächlich die einzige Tätigkeit war, bei der sie irgendeine Art von sozialen Kontakten pflegte. "Ja... das tust du", stimmte Marjorie zu. "Und es freut mich, dass es dir Freude macht dorthin zu gehen, aber... Baby, das kann doch nicht alles sein. Seit der Gerichtsverhandlung verkriechst du dich hier. Versteh mich bitte nicht falsch, ich danke Gott für jeden Tag, den du bei mir verbringst, aber als du hier ankamst sagtest du mir, es sei nur für eine Weile, höchstens zwei Wochen, bis du dir im Klaren darüber bist, wo du hinwillst. Du sagtest, du bräuchtest eine Pause von deinem Job und von allem, was passiert ist und das verstehe ich. Das haben wir alle verstanden. Nur... dich hier zu verstecken, wird dich in keiner deiner Entscheidungen weiterbringen, die du treffen musst."
Sanju lauschte ihr mit gesenktem Blick, brennenden Wangen und stoischem Schweigen, welches weiterhin anhielt, auch nachdem Marjorie ihren Redefluss beendet hatte. Nach einem Moment des Schweigens seufzte diese tief auf. "Na gut. Okay. Hast du wenigstens mit deiner Familie gesprochen? Mit deinem Vater? Deinen Geschwistern? Oder hast du vor, deine Mutter einmal zu besuchen?" Bei diesem Satz schien ein Ruck durch Sanju zu fahren und sie hob den Blick, starrte ihre Großmutter für einen Augenblick an und erhob sich dann in einer plötzlichen, schnellen Bewegung. Ohne ein Wort zu sagen, verließ sie die Küche und das Haus und schlug die Holztür geräuschvoll hinter sich zu. Eisiger Wind wehte ihr entgegen, es war bereits dunkel und schon in den Herbstmonaten schmeckte man in Montana den Winter in der Luft. Sanju atmete tief durch, strich sich mit einer fahrigen Bewegung das Haar aus dem Gesicht und nach hinten und begann schließlich zu laufen. Erst in langsamem Jogger-Tempo, doch irgendwann steigerte sie ihre Geschwindigkeit und rannte durch die Dunkelheit. Einzig das Mondlicht gab ihrer Umgebung Konturen und ließ sie ihren dampfenden Atem vor den tauben Lippen sehen. Sie wusste nicht, wohin sie wollte, nur weg von Marjorie, ihrem guten Zureden, ihrer plakativen Besorgnis und ihren versteckten Spitzen. Weg von ihr, weil sie sich den Wahrheiten, die sie auf sie einprasseln ließ, nicht stellen wollte. Nicht stellen konnte. Sie wollte nicht daran erinnert werden, dass ihr Leben ins Leere lief, während sie die Hände im Schoß gefaltet hielt und nichts dagegen unternahm. Wollte nicht wissen, was man um sie herum für Erwartungen an sie stellte - ein Besuch, ein Anruf, irgendeine Art von Lebenszeichen. Entscheidungen jeglicher Art, die sie nicht zu treffen bereit war. Und vor allem wollte sie nicht an ihre Mutter erinnert werden, die ihretwegen in diesem Gefängnis saß. Deren Ruf und Karriere ihretwegen zerstört waren und die sich in einem föderativen Gerichtssaal nach über zwanzig Jahren treuem und gewissenhaftem Dienst in der Sternenflotte als cardassianische Spionin beschimpfen lassen musste. Sie hatte sie seit diesem Tag, der nun beinahe vier Monate zurücklag, nicht mehr gesehen und auch davor seit Corsho nicht mehr, da sie zu krank gewesen war, um ihre Mutter in der U-Haft zu besuchen. Nie zuvor hatte es eine Zeit in ihrem Leben gegeben, in denen sie sich so lange nicht gesehen, nicht miteinander gesprochen hatten und Sanju wusste, dass ihre Mutter auf sie wartete. Und doch brachte sie es einfach nicht über sich, ihr unter die Augen zu treten.
Nicht weil sie ihre Vorwürfe fürchtete, oh nein, sie wusste, es würde keine geben. Anouk würde sich freuen, sie zu sehen. Doch allein die Vorstellung dabei zusehen zu müssen, wie ihre Mutter in einem Gefängnisoverall und in Handschellen zu ihr geführt wurde, ließ ihr übel werden. Von Anfang an hatte Sanju sich über ihre Wünsche hinweggesetzt. Anouk hatte nie gewollt, dass ihre Tochter dem Marine Corps beitrat, hatte immer befürchtet, dass es einmal ein schlimmes Ende nehmen würde. "Wenn du diesen Weg einschlägst, wirst du irgendwann einmal den Preis der Soldaten zahlen müssen", hatte sie ihr gesagt. "Der Krieg hat nichts heldenhaftes oder poetisches an sich. Und Soldaten sterben oder kommen als menschliche Wracks zurück. Zur Schlachtbank geführt von Leuten, die danach nichts mehr davon wissen wollen, dass es Befehle dieser Art gegeben hat. Der Preis der Soldaten ist die Leere in den Augen - so oder so." Sanju erinnerte sich an diese Worte, hörte sie in der kalten Nacht in Montana so klar und deutlich, als stünde Anouk neben ihr und flüstere sie ihr erneut zu.
Damals, als sie sie zum ersten Mal gehört hatte, hatten sie sie wütend gemacht. Sie hatte nichts hören wollen von den Weisheiten ihrer Mutter, von ihren Erfahrungen mit Kriegen seit ihrer frühesten Kindheit. Bei ihr würde alles ganz anders sein, da war sie sich sicher gewesen. Abgesehen davon: Donnie, Eric, Angel und so viele Andere, die Sanju seit ihrer Kindheit gekannt hatte, waren erfolgreiche und hochdekorierte Soldaten und bei keinem von ihnen hatte sie leere Augen entdeckt. Sie war sich sicher gewesen, dass ihre Mutter übertrieb, ihr nur ihre Karriere in den Forces nicht gönnen wollte wegen ihrer eigenen Aversion gegen diese. Und der Beginn ihrer Laufbahn in der Squad schien ihr in dieser Annahme recht zu geben, denn es hätte nicht viel besser laufen können. Stark und geschickt war sie schnell in den Rängen aufgestiegen, hatte Freunde und gute Kameraden gehabt, war beliebt gewesen und sich so sicher, dass dies der Weg für sie war, ganz gleich was ihre Mutter dazu zu sagen hatte.
Doch dann war Corsho geschehen und der Tod in greifbare Nähe gekommen. Ob durch das Virus und seine Spätfolgen oder die Bomben, die man auf die Kolonie hatte werfen wollen - kein Ausweg hatte sich aufgetan, um sie und die anderen Infizierten zu retten außer dem, den Anouk sich ertrotzt hatte. Sie war es am Ende gewesen, die den Preis für Sanju bezahlt hatte und sie fürchtete sich. Fürchtete sich davor, in den Augen ihrer Mutter die Leere vorzufinden, vor der diese sie immer gewarnt hatte.
An einem der Zäune, die die Weiden abgrenzten, hielt sie nach etwa einem halben Kilometer schließlich keuchend an. Ihr Herz, das nicht mehr das ihre war, schlug schnell und ihr war schwummerig vom Sauerstoffmangel nach dem Lauf, was sie zu einem bitteren, schnaubenden Lachen verleitete. "Kondition: Mangelhaft...", urteilte sie schwer atmend und fuhr sich mit einer Hand durch das Gesicht. Sie schwitzte trotz der Kälte. "... Juniper", fügte sie nach einer langen Pause schließlich flüsternd hinzu und so ungebeten wie unwillkommen stiegen ihr Tränen in die Augen. Gehörte dieser Name, ihr Forces-Rufname, noch zu ihr? Er klang so fremd in ihren Ohren, so falsch und doch so zwingend mit ihr verbunden. Sie war einmal Juniper gewesen und sie war es gern gewesen. Doch jetzt war sie gelähmt von Angst nach allem, was sie erlebt hatte.
Sie hob den Blick gen des offenen Sternenhimmels über ihr, während die Tränen ihr über die Wangen strömten und auf diesen kalt wurden. "Was soll ich tun...?", flüsterte sie. "Bitte, Herr... ich weiß nicht, was ich tun soll... bitte gib mir ein Zeichen..." Ihre Hand wanderte langsam zu der Kreuzkette, die Donnie ihr einmal geschenkt hatte nach jenem Einsatz im klingonischen Internierungslager. Sie erinnerte sich daran, an diesem Tag zum ersten Mal Zweifel an ihrem Weg in die Forces gehabt zu haben. Es war lange her, sie war noch ein Private gewesen. Doch sie hatte die Stimme des Zweifels in sich zum Schweigen gebracht. Wenn auch ganz offensichtlich nicht endgültig.
Noch immer blickte sie gen Himmel. Ihr Gottvertrauen schien das Einzige zu sein, was ihr noch geblieben war. "Ich weiß nicht, wohin ich gehen soll", betete sie leise weiter. Ihre Stimme zitterte. "Aber hier kann ich nicht mehr bleiben und nach Hause kann ich auch nicht gehen. Noch nicht. Nicht so, nicht ohne irgendeine Antwort. Bitte, hilf mir. Bitte sag mir, wohin ich gehen soll. Bitte..."