Beiträge von Anouk Fey

    "Commodore Fey, Ihre Tochter ist hier, um Sie zu sprechen", ertönte Lieutenant Malin Skoras Stimme aus der Kommunikationseinheit in dem Labor des PMC, in dem Anouk gerade dabei war, diverse Abstrichproben zu sammeln und auszuwerten. Überrascht sah sie auf. "Welche?", forschte sie ohne Umschweife und latent trocken nach. Immerhin hatte sie vier Möglichkeiten, von der sie eine ausschloss und eine weitere als recht unwahrscheinlich einschätzte. Blieben noch zwei. "Miss Sinaida", erwiderte der Lieutenant und Anouk zog leicht die Brauen zusammen. Ida war immerhin eine der zwei plausiblen Möglichkeiten gewesen. Trotzdem verwunderte es sie. "Schicken Sie sie in mein Büro, Malin. Sagen Sie ihr, dass ich gleich bei ihr bin", wies sie an.

    Anouk beendete die Verbindung, irritiert und alarmiert. So rasch wie möglich lagerte sie die Proben ein. Die Arbeit unterlag Sicherheitsstandards und konnte so leicht kompromittiert werden, dass sie sich die Zeit dafür zwingend nehmen musste. In ihrem Feld war es schwierig, einfach alles stehen und liegen zu lassen. Dennoch kreisten ihre Gedanken um den plötzlichen Besuch Sinaidas im PMC. Sie war immer mit Abstand die Ruhigste und Besonnenste unter ihren Kindern gewesen. Ein Mädchen, das die Welt von Beginn an mit sehr viel Wissensdurst und Ernst begutachtet hatte. Eine Wissenschaftlerin von klein auf, die mit fünf Jahren begonnen hatte, eigene, kleine Experimente durchzuführen und obwohl Anouk wusste, dass das vulkanische Blut in ihr daran sicherlich einen großen Anteil hatte, so hoffte sie doch innerlich gleichsam, dass auch ihr eigener Hang zu Naturwissenschaft und Fakten ihre Tochter ein wenig inspiriert haben mochte, auch wenn ihr Weg sie nicht in die Medizin geführt hatte. Sie hatte Astrophysik studiert und nun die Chance erhalten, in einem der Wissenschaftsinstitute auf Vulkan zu forschen und dort ihren Doktorgrad zu erwerben. Um 1900 heutiger Bordzeit sollte der Frachter ablegen, der sie zu diesem neuen Ziel bringen sollte und Anouk wusste, dass irgendetwas dahingehend nicht in Ordnung sein konnte, wenn sie sie jetzt sprechen wollte. Sinaida hatte sie bisher nie bei der Arbeit besucht und säuberlich alle Anliegen bis nach dem Dienstschluss ihrer Mutter aufbewahrt. Wenn sie jetzt hier war, hatte es einen gravierenden Grund.

    Anouk durchlief die Desinfektionsschleuse vor dem Labor und trat schließlich hinaus, wendete sich nach rechts und ging raschen Schrittes den Gang hinab bis sie ihr Büro erreichte. Sobald sie es betrat, erhob sich Ida von dem Stuhl, auf dem sie ohnehin nur auf der Kante gesessen hatte und drehte sich zu ihr um. "Mum... entschuldige, dass ich dich störe." Anouk schüttelte den Kopf. "Nein, schon gut... so lange du einen Moment warten konntest. Was ist passiert?" Sinaida legte die Hände in den Rücken. "Es... hat sich eine neue Abflugzeit für meinen Frachter ergeben", berichtete sie. Anouk hob eine Braue. "Und wenn es so dringend ist, dass du deswegen herkommst, dann nehme ich an, die Abflugzeit wurde... vorverlegt?" Ihre Tochter nickte. "Sie fliegen bereit um 1500 Bordzeit. Also in nicht mal zwei Stunden. Ich dachte... wenn du nicht zu beschäftigt bist, sollten wir vielleicht noch einmal zusammen zu Mittag essen." Anouk musste lächeln. "Das würde ich sehr gern tun, Liebes... schön, dass du dir die Zeit nimmst."


    Keine halbe Stunde später saßen die beiden miteinander in Howard's Tearoom, einem Lokal der traditionell englischen Küche, das vor allem Sinaida sehr mochte. "Ich werde nie begreifen, was du an weißen Bohnen auf Toast so großartig findest", schmunzelte Anouk, nachdem sie bestellt hatten. "Naja... es ist... nahrhaft. Sättigend. Vielleicht ein bisschen zu sättigend. Und nicht zu vergessen... köstlich!" Sinaida lächelte. "Howard macht die beste britische Küche... zumindest auf der Station. Ich werde diesen Laden auf Vulkan vermissen. Vielleicht sollte ich mir Bacon dazu bestellen. Auf Vulkan wird es sehr vegetarisch." Anouk lachte. "Das ist wahr... vermutlich müssen wir dir Carepakete von Shepard, Bajor oder Terra schicken, damit du überlebst", scherzte sie. "Du weißt, dein Dad würde dir einen Ochsen schlachten und dir nach Vulkan schicken." Sinaida verschluckte sich beinahe an ihrem Tee und setzte diesen leise lachend wieder behutsam ab. "Großartig. Wahrscheinlich würden sie mich aus dem Programm werfen, wenn er ankäme", entgegnete sie. Anouk lächelte und streckte die Hand aus, um die ihrer Tochter zu ergreifen. "Ich bin wirklich stolz auf dich, Liebes. Nach Vulkan zu gehen ist so ein großer Schritt... wie fühlst du dich damit? Bist du bereit?" Ida umschloss Anouks Hand und nickte. "Ja... ja, ich denke schon. Ich habe so lange darauf hingearbeitet, diesen Platz zu bekommen. Ich weiß, ich bin nie vulkanisch erzogen worden, aber... es ist trotzdem in mir. Ich glaube, ich könnte mich wohlfühlen auf Vulkan. Auch wenn ich nicht aus reiner Logik bestehe. Aber sie ist keinem Wissenschaftler fremd." Anouk nickte. "Und du bist eine herausragende unter ihnen. Ich finde immer noch, du hättest in der Starfleet Academy..." "Mum, bitte. Wir haben doch darüber gesprochen, oder? Ich sehe mich nicht in der Sternenflotte, aber ich schließe es auch nicht völlig aus. Zuerst möchte ich aber meinen Doktor machen, bevor ich entscheide, ob ich als Wissenschaftsoffizier in die Flotte eintreten. Kannst du so lange warten?" Sie sahen sich einen Moment lang an. Dann senkte Anouk den Blick. "Natürlich. Entschuldige, es ist deine Entscheidung, Ida. Es ist nur... mir tut die Sternenflotte leid. Sie würde auf einen verdammt guten WO verzichten müssen, wenn du dich für den Zivilistenweg entscheidest", neckte Anouk sie und schlug den Blick ein wenig verschmitzt nach oben. "Du willst nur eine Tochter, die zumindest tendenziell deinen Weg einschlägt. Wenn nicht Medizin, dann wenigstens die Flotte", konterte Sinaida und drückte Anouks Hand ein wenig fester. "Hast du von Sanju gehört?"

    Anouk verstand die Überleitung mehr als gut. Die Tochter, die so ziemlich keinen Weg eingeschlagen hatte, den Anouk jemals als gesund für sie eingeschätzt hätte. Mehr als einmal hatte sie damit ziemlich richtig gelegen. "Seit ein paar Wochen nicht, nein. Sie zieht sich immer mehr zurück seit sie diesen Kerl in der Air Force kennen gelernt hat..." "Der wie vielte in diesem Jahr ist das schon?", fragte Sinaida. Der Versuch, trocken zu klingen, misslang ein wenig. Die Sorge in ihrer Stimme stach deutlich hervor. Anouks Blick verfinsterte sich. "Ich weiß es nicht genau. Der vierte bestimmt. Ich warte immer noch darauf, dass sie sich fängt, aber... ich beginne mehr und mehr zu glauben, dass alles, was Risiko ist, in ihrer Natur liegt. Wie es in der Natur eurer Tante Fiona lag. Sanju war ihr schon immer ähnlich und ihr Hang dazu, alles zu fliegen, was sie vom Boden kriegt, unterstreicht das nur." Sinaida gab einen zustimmenden Laut von sich. "Naja... sie ist erwachsen. Und wir wissen alle, dass wir nach Hause kommen können, wenn wir Hilfe brauchen. Sie auch." Anouk nahm einen Schluck Wein. "Ich hoffe, du hast recht, Ida. Das hab ich bei meiner Schwester auch gedacht. Bis sie irgendwann nicht mehr kam... aber lass uns nicht über so etwas reden. Die Zeit, die wir noch haben, ist viel zu knapp dafür. Wir werden dich vermissen! Die Kleinen bestimmt besonders." "Vielleicht solltest du aufhören, Jamie und Elena als 'die Kleinen' zu bezeichnen... die Pubertät winkt ihnen schon zu", erwiderte Sinaida. "Ah. Sie sind und bleiben die Kleinen. Segen und Fluch der Nesthäkchen. Und hier kommt unser Essen...", unterbrach sie sich, als Howard heran kam, um zu servieren.


    Nach dem gemeinsamen Mittagessen schlenderten Anouk und Sinaida Arm in Arm zum Turbolift. Es wurde Zeit, sich zur Schleuse zu begeben, wo der Frachter andockte, der Sinaida nach Vulkan bringen würde. "Schade, dass Daddy auf einem Einsatz ist... ich hätte mich gerne persönlich von ihm verabschiedet", meinte Ida und nannte dem Computer das Deck. Anouk lächelte. Es rührte sie auch nach all den Jahren noch, wenn ihr beiden älteren Töchter, die aus vorherigen Beziehungen stammten, Donnie 'Daddy' nannten. "Ich bin sicher, er freut sich sehr, wenn du ihn kontaktierst, sobald du angekommen bist. Oder ihm zumindest eine Nachricht hinterlässt. Im Moment kommt man schlecht zu ihm durch." Sie stiegen aus und gingen auf die Schleuse zu. "Das mach ich. Grüß die Zwillinge von mir, ja? Zu ihnen konnte ich ja wegen ihren Schulzeiten auch nicht mehr... ich melde mich bei euch allen, so schnell ich kann." Die beiden umarmten sich. "Ganz in Ruhe, Ida. Wir können warten. Komm gut an und richte dich in Ruhe ein. Ich hoffe, du fühlst dich auf Vulkan so wohl, wie du es dir vorstellst und deine Arbeit dort bringt die Freude und Erfüllung. Sobald wir können, besuchen wir dich... versprochen." Anouk streckte sich, um ihre Tochter, die ein ganzes Stück größer war als sie selbst, einen Kuss auf die Stirn geben zu können. "Ich liebe dich, Ida... pass gut auf dich auf." Sinaida schloss die Augen. "Das werde ich... und ihr auf euch hier. Wir sprechen, so oft es geht. Bis bald, Mum... ich liebe dich auch." Anouk trat zurück und Sinaida wandte sich um, um durch die Schleuse zu gehen. Noch einmal winkte sie, dann war sie verschwunden. Noch einen langen Moment blieb Anouk stehen und sah ihrem Kind nach, das inzwischen eine erwachsene Wissenschaftlerin war. Leicht nickte sie. Es war gut so, wie es war. Zuweilen war Trennung notwendig, um sich weiter zu entwickeln und sie war sich sicher, dass Sinaida Großes würde erreichen können.

    "Sullivan an Fey", erklang in diesem Moment die Stimme ihrer Stellvertreterin und seit langer Zeit guten Freundin Lilly. Anouk zuckte leicht zusammen. Aus den Gedanken gerissen tippte sie auf den Kommunikator. "Fey hier... was ist los, Lil?" "Du hast eine Nachricht von Tron'Jenar bekommen. SoH'rajan von Tron'Jenar bittet, dass du dich bei ihr meldest. Offenbar geht es um was Medizinisches." Anouk schnaubte leise ob des letzten Satzes ihrer Kollegin. "Große Überraschung. Sie wird mich kaum aus Nostalgiergründen zum Raktajino trinken einladen", entgegnete sie. "Weißt du's? Warst du nicht schon öfter Gast dort?" "Naja... einmal wirklich. Da waren aber auch Sanju und Ssihanna noch gute Freundinnen. Sicher, man kennt sich und ich hab viel ausgeholfen bei den Verletzten unten nach dem Anschlag, aber... egal, geht es etwas genauer? Worum geht es?" "Ich weiß nichts Näheres. Es steht nur da, dass sich neue Pläne ergeben haben medizinischer Art und dass sie dich um Kontaktaufnahme bittet, wenn es dir passt." Anouk zögerte einen Moment, bevor sie sich schließlich einen sichtlichen Ruck gab. "Sag Skoras, er soll meine Termine für heute absagen. Ich habe gerade Ida Richtung Vulkan verabschiedet, Donnie ist sowieso nicht da und die Zwillinge sind heute lange in der Schule... ich beame runter auf Tron'Jenar. Ein bisschen frische Luft auf einer Planetenoberfläche wird nicht schaden. Außerdem bin ich neugierig." "In Ordnung. Halt mich auf dem Laufenden, okay? Lil out."


    Anouk nahm ihr PADD zur Hand und schickte zumindest eine kurze Nachricht an SoH'rajan, um sie wissen zu lassen, dass sie spontan vorbei kommen wollte. Sie kann darauf verzichten, den klingonischen Wachen am Tor der Feste erklären zu müssen, dass man sie erwartet, wenn es im Grunde genommen keiner tat. Nachvollziehbarerweise war man auf Tron'Jenar zur Zeit sicherlich ein wenig... intensiv, was Sicherheitsfragen betraf. Anouk konnte es ihnen nicht verdenken. Was geschehen war, musste tiefe Wunden hinterlassen haben. Ein Desaster, dessen Ausmaße sie aus erster Hand gesehen hatte. Nur Stunden nach dem Anschlag war sie mit einem kompletten Team des PMC unten gewesen und hatte mehrere Tage lang bei der Versorgung geholfen. Seit den Tagen des Undinenkrieges hatte Anouk selbst nicht mehr einen solchen Strom an Verletzten gesehen. Doch als sie jetzt in der Nähe der Feste rematerialisierte und einen Blick auf das Bauwerk werfen konnte, hob sie anerkennend die Brauen. Es war eindeutig viel passiert hier. Der Wiederaufbau schien nicht nur in vollem Gange, sondern sogar zu Großteilen bereits abgeschlossen zu sein. Nun ja. Man konnte wohl nicht sagen, dass D'Ankwar und seine Familie zu denen gehörten, die schnell den Kopf in den Sand steckten. Rückschläge wurden abgefangen und man baute auf Ruinen wieder neu auf. Eine bewundernswerte Charaktereigenschaft, mit der Anouk immerhin metaphorisch vertraut war. Sie hatte nie wirklich etwas mit den eigenen Händen gebaut, aber es hatte mehr als einen Schicksalsschlag und mehr als einen Krieg gegeben, aus dem sie sich wieder nach oben gearbeitet hatte.

    Sie genoss die milde Luft des Nachmittags, während sie auf das Tor der Feste zu hielt. Wie erwartet standen dort Wachen. "Qapla!", grüßte Anouk passend. "Ich bin Commodore Anouk Fey. Aj SoH'rajan von Tron'Jenar wollte mich sprechen. Sie weiß Bescheid, dass ich herkomme. Ich warte gerne hier, während Sie sie informieren", sprach sie sofort weiter, bevor man ihr Fragen stellte. Wie auf Kommando drehte sich einer der Krieger um und winkte einen Weiteren heran, damit dieser das Einverständnis einholte. Die Feste war dicht, eindeutig. Hier kam sicherlich niemand mehr nur auf Vertrauensbasis herein. Anouk störte sich nicht daran. SoH'rajan würde es regeln oder sie würde schlicht zurück auf die Station gehen.

    Fünf Tage später:



    "Gehen Sie auf Impulsgeschwindigkeit, Ensign. Kein Warp mehr, wir sind zu nah am Shepard SC und an Auriga II. Falls Sie also kein gesteigertes Interesse daran haben mit einer Raumstation zu kollidieren, die die Größe einer Kleinstadt aufweist, sollten Sie die Geschwindigkeit verringern... wer hat Sie befördert, Junge? Sie gehören nochmal auf die Schulbank der Academy, wenn Sie mich fragen..."

    Anouk schlug kurz amüsiert den Blick nieder und genehmigte sich ein Schmunzeln. Der Captain des kleinen Frachters, der sie zurück nach Shepard flog, nachdem sie das letzte Jahr in einer föderativen Vollzugsanstalt verbracht hatte, war offensichtlich nicht um eine spitze Zunge verlegen. Sie hörte nicht, was der junge Ensign als Entschuldigung vorzubringen hatte, doch nur Sekunden später verwandelten sich die als gleißende Lichtbahnen vorbeiziehenden Sterne wieder in stille Fixpunkte und das All nahm Form an. Anouk hielt den Atem an, stand langsam auf und trat an eines der Fenster heran, um hinaus zu sehen.

    Dort war es. So nah, dass man das Gefühl hatte, es greifen zu können, obwohl noch immer einige tausend Kilometer zwischen ihnen lagen. Doch in der Weite des Alls wurden solche Zahlen zu Nichtigkeiten und als Anouk das gewaltige Shepard Space Center vor sich sah, wusste sie wieder, warum dies so war. Nach einem Jahr auf einer planetaren Oberfläche, das sie die meiste Zeit über in einer recht bescheidenen Zelle verbracht hatte, war ihr die Weite des Weltraums wie eine Befreiung erschienen und an einem Ort, an dem kein Atemzug außerhalb einer schützenden Hülle möglich war, hatte sie das Gefühl gehabt, endlich wieder frei atmen zu können. Immer schon hatte sie das All geliebt und sich nie auf Planeten wohlgefühlt. Es hatte keine Rolle gespielt, wenn sie nur für einige Stunden oder Tage im Zuge ihrer Arbeit dort gewesen war oder zuweilen einen kleinen Urlaub mit ihrer Familie auf Terra oder Bajor verlebt hatte, aber sie hatte sich immer wieder auf die Rückkehr ins All und auf eine ihrer geliebten Stationen gefreut. Zuerst Lindbergh, dann - nach dem Undinenkrieg - Shepard. Vielleicht lag es daran, dass sie auf einer Raumstation geboren worden war, dass sie sich ihnen so verbunden fühlte, aber andererseits war Terok Nor - die Station, die die Föderation heute als Deep Space 9 kannte - sicher kein gastlicher Ort gewesen. Für keinen Bajoraner und ganz bestimmt nicht für ein kleines Kind, wie sie es damals noch gewesen war, doch Anouk schob den Gedanken beiseite. Es war typisch für sie, sich den Moment der Rückkehr nach Hause durch solche Bilder der Vergangenheit zu verderben und sie würde es nicht zulassen. Nicht diesmal.

    "Wir docken gleich an, Ma'am", hörte sie plötzlich die sonore Stimme des Captains neben sich. Ein Mann wie ein Schrank, sie reichte ihm nicht einmal bis zur Schulter, doch das war sie gewöhnt. Schon immer von kleiner und zarter Statur hatten die meisten Leute sie überragt und sie war bisher keinem Mann begegnet, der kleiner als sie gewesen wäre. Im Gegenteil erinnerte sie die Statur des Captains ein wenig an Donnie und offenbar schien auch sein Wesen dem seinen zu entsprechen. Ein gutmütiger Riese, hinter dem Anouk sich verstecken könnte, würde sie es denn wollen. Aber das hatte sie nicht vor. Ihre Verstecke und Schutzschilde waren nie andere Personen gewesen. "Sehen Sie mal, Ma'am... sie hat ganz schön was abbekommen. Elende Cardassianer und dieser Abschaum von Shambrooke... ein Wunder, dass sie noch da ist. Hab gehört, die Reparaturcrews arbeiten Tag und Nacht, aber das Mädchen ist gut zerschossen worden. Ohne Tron'Jenar und ein paar Freunde wäre sie vielleicht nicht mehr hier, um uns zu begrüßen...", erzählte Captain Redford und eine steile Falte bildete sich zwischen seinen Augenbrauen. Anouk sah zu ihm auf. Noch aus der Untersuchungshaft heraus hatte sie Commander Craven damals einmal geholfen die Attacke der Cardassianer auf Shepard zu stoppen, doch offenbar gaben sie nicht auf und die Verbindung zu Shambrooke, dem meist gesuchtesten Verbrecher innerhalb der Föderation, und seinem Cyborg Keiko machte sie nur noch gefährlicher. Einen kurzen Moment lang fragte sich Anouk resigniert, ob es jemals aufhören würde oder ob es schlicht ihr Schicksal war, immer und immer wieder der Attacken der Cardassianer standhalten zu müssen. Doch, stellte sie innerlich mit ein wenig Galgenhumor fest, wenn es eine Konstante in ihrem Leben gab, dann zumindest diese. Die Cardassianer würden sie nie verlassen. Und sagte man nicht, dass einem ein Todfeind am Ende beinahe genauso nah war wie ein bester Freund?

    "Danke, Captain", antwortete sie quasi parallel zu ihren Gedankengängen, ging jedoch nicht näher auf seine Erzählung ein. Wie üblich behielt sie die Dinge, die sie bewegten, für sich. Sie kannte diesen Mann kaum und auch wenn er ihr sympathisch war, ging es ihn nichts an, ob die Erwähnung des cardassianischen Angriffs auf die Station sie berührte oder nicht. Die Zeit im Gefängnis war vorbei. Sie war nun wieder Commodore Fey, die Leiterin des Paracelsus Medical Centers und auch wenn sie, bedingt durch das Urteil, nie wieder ein Schiff kommandieren würde, war sie dennoch ein hochrangiger Offizier der Sternenflotte. Und als solcher würde sie sich keine Blöße geben. Er nickte ihr freundlich zu, schien auch nicht mehr zu erwarten. Stattdessen ging er wieder nach vorne und bellte einige Befehle, die offenbar zügig befolgt wurden, denn kurze Zeit später dockte der kleine Frachter an der Station an und die Schleusentüren öffneten sich. "Willkommen zurück auf dem SSC, Ma'am", zwinkerte der Captain gutmütig und ließ ihr dann den Vortritt.

    Anouk atmete tief durch und straffte ihre Haltung. Ihr war sehr wohl bewusst, dass die Geschichte auf Corsho einen medialen Skandal nach sich gezogen und dass man ihr Gesicht einige Wochen lang auf sehr vielen Bildschirmen gesehen hatte. Abgesehen davon war ihr Name nicht unbekannt, schon allein aufgrund ihrer Stellung würde man sie erkennen. Die ganze Zeit über war sie jedoch in Haft und somit für niemanden zugänglich gewesen und obwohl die ganze Sache nun ein gutes Jahr her war, konnte sie sich vorstellen, was auf sie zukommen mochte, sobald sie sich der Öffentlichkeit auf Shepard zeigte. Aber das hier war ihr Zuhause und sie konnte sich nicht ewig verstecken. Es gab nichts mehr, wofür sie sich schämen musste. Wenn es etwas zu verbüßen gegeben hatte, hatte sie es im Gefängnis abgegolten und für den Rest würde sie sich nicht entschuldigen, denn der Rest stand jeder Mutter und jedem Wesen mit Herz, Verstand und Moral gut an. Dies war und blieb ihre Überzeugung. Und somit setzte sie nun entschlossener einen Fuß vor den anderen, verließ den Frachter und betrat durch die Schleuse hindurch das Shepard Space Center.

    Als sich die Zellentür hinter ihr schloss, atmete Anouk auf. Trotz ihrer Situation empfand sie für den Moment nichts als Erleichterung. Erleichterung darüber, endlich einen Moment für sich allein zu haben. Sie drehte sich in ihrem neuen Zuhause auf Zeit einmal um sich selbst. Es war nicht groß, aber immerhin geschlossen. Die Zellen, die lediglich durch ein Kraftfeld verschlossen wurden, mochten in Ordnung sein für einen Kurzaufenthalt im Arrest, wenn man ein wenig überreagiert hatte und nach ein paar Stunden wieder gehen durfte, doch für einen längeren Zeitraum, einen Zeitraum der über Monate oder gar Jahre andauerte, konnte sich Anouk kaum etwas Schlimmeres vorstellen als auf Dauer hinter nichts als einem Kraftfeld zu sitzen. Der Voyeurismus dahinter würde an Folter grenzen. Doch so war die Föderation immerhin nicht.
    Sie setzte sich an den kleinen Tisch, der für sie bereitstand. Standardeinrichtung, da war sie sich sicher. Niemand hätte ihr ein Extra zukommen lassen, um ihr die Zeit zu versüßen, aber das war auch nicht nötig. Ein Tisch, ihre Aufzeichnungen und etwas zu schreiben - und sei es nur eine handschriftliche Möglichkeit, weil man ihr kein technisches Gerät geben wollte oder es schlicht den Standard einer Gefängnisinsassin übersteigen würde. Mehr würde sie nicht brauchen. Denn Anouk hatte nicht vor, dieses Jahr ungenutzt verstreichen zu lassen. Es gab so viel zu tun und da das Urteil ihr nicht erlaubte, sich tatsächlich im realen Leben nützlich zu machen, würde sie es hier tun müssen. Einige persönliche Gegenstände hatte sie hierher mitbringen dürfen und neben Bildern ihrer Familie hatte sie besonders ihre Forschungsaufzeichnungen über das Undinenvirus bei sich. Es gab reichlich zu protokollieren und in eine sinnvolle Ordnung zu bringen, viele Dinge mussten noch einmal genau in Augenschein genommen werden und sie war bisher nie dazu gekommen, die alten Ergebnisse systematisch noch einmal durchzugehen und zu einem stringenten Bericht zusammen zu fassen. Es war eine Arbeit, die so komplex und langwierig war, dass man sie, bedingt durch alle neuen Aufgaben, die im Alltag anstanden, ständig hinausschob. Hier bot sich ihr nun die perfekte Gelegenheit dazu, dieses Versäumnis nachzuholen. Abgesehen davon, dass sie die Hoffnung hegte, dass Lily sie wenigstens einmal würde besuchen können, um ihr neue Ergebnisse zu bringen, die es einzuarbeiten galt. Vielleicht würde ein lückenloser Gesamtüberblick endlich zu einer zündenden Idee führen, denn Anouk hatte keine Sekunde lang vor, ihre überaus wichtige Arbeit an einem Gegenmittel vollkommen auf Eis zu legen. Zugegeben, die Bedingungen waren erschwert, doch das bedeutete nicht, dass sie das Jahr nicht auf irgendeine Art würde nutzen können.
    Doch trotz ihrer Motivation, drifteten ihre Gedanken von der Arbeit ab, während sie einen Blick aus dem Fenster warf. Sie stand auf und trat an dieses heran, um einen Blick hinauszuwerfen. Es war bereits früher Abend und die Sonne stand tief am Himmel. Bald würde sie untergehen und die Welt würde zur Ruhe kommen. Dunkelheit und Stille kündigten sich an. Es war jene Zeit des Tages, die Frieden, aber auch unglaubliche Einsamkeit in sich tragen konnte. Jene Stunde zwischen Tag und Nacht, die nach sonnengetränkten Blumen duftete und von nahender Ruhe und warmen Umarmungen kündete, wenn man Glück hatte. Doch ebenso von drückender Stille, schwindendem Licht und fehlender Beschäftigung, um die eigenen Gedanken und Dämonen in sich nicht laut werden zu lassen. Von ewig langen Nächten, in denen man sich lebendig begraben fühlte.
    Anouk hatte das beinahe vergessen. Zu selten war sie außerhalb von Raumstationen, um sich an die Stimmung gewöhnen zu können und wenn sie auf der Oberfläche eines Planeten gewesen war, dann entweder mit ihrer Familie oder aufgrund einer dienstlichen Verpflichtung. In beiden Fällen hatte sie keine Zeit für Dämonen gehabt. Hier jedoch wanderten ihre Gedanken unweigerlich zurück zu dem Prozess, der in den Nachmittagsstunden zu Ende gegangen war.
    Sie war so schockiert gewesen wie alle Anderen, als Samantha Riley sich als Mörderin offenbart hatte. Niemals hatte sie damit gerechnet, nie war es auch nur ein hypothetisches Szenario in ihrem Geist gewesen, dass die junge Frau mit voller Absicht einen Fehlschuss gesetzt haben könnte, um die eigenen Leute zu töten. Ad hoc hatte dies Anouk von der Hauptlast der Schuld befreit und sie hätte erleichtert sein müssen darüber. Doch hier und jetzt, während sie die Farben des Abendhimmels aus dem Fenster ihrer Gefängniszelle anschaute, verspürte sie keine Erleichterung. Nur Traurigkeit. Traurigkeit darüber, dass diese junge Frau durch irgendetwas so wütend gewesen war, dass sie keinen anderen Weg gesehen hatte. Traurigkeit darüber, dass so Viele hatten sterben müssen. Traurigkeit darüber, dass sie es gewesen war, die Riley die Gelegenheit dazu gegeben hatte. Anouk war nicht dumm, sie wusste, dass es früher oder später wohl so oder so zu einem entsprechenden Ausbruch bei der Private gekommen wäre. Doch sie würde immer diejenige sein, unter deren Kommando es geschehen war. Die, die nie wieder ein Schiff kommandieren würde. Der man nicht vertrauen konnte. Die Befehlsverweigerin. Die Spionin. Die Cardassianerin.
    Als ihre Gedanken an diesem Punkt angelangt waren, schluckte sie hart und fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht und durch das Haar. Nein, sie wurde zu dramatisch. Es war ein Trick gewesen. Ein Trick, auf den sie hereingefallen war, obwohl ihr vorher klar gewesen war, dass Corone McCullagh versuchen würde, sie zu provozieren. Der Staatsanwalt hatte seine Hausaufgaben gemacht und vor Gericht seine Arbeit getan. Er hatte versucht, sie aus dem Gleichgewicht zu bringen, um die Geschworenen von seiner Sichtweise zu überzeugen. Natürlich hatte er das. Worauf hätte er auch sonst seine Strategie aufbauen sollen, wenn man bedachte, dass sie eine makellose Akte vorzuweisen hatte? Und es war ihm gelungen, weil der Richter die Entscheidung getroffen hatte, McCullaghs Weg der dubiosen Anschuldigungen und psychologisch äußerst fragwürdigen Querverbindungen zu folgen und ihre Kindheit in Kriegsgefangenschaft des Obsidianischen Ordens gegen sie zu verwenden, dem Gedankengang folgend, dass diese eine direkte Motivationsgrundlage für ihre Handlungen auf Corsho dargestellt hatte, obwohl doch bereits jedem in diesem Saal klar gewesen sein musste, was das wahre Motiv gewesen war.
    Sanju. Anouk atmete tief durch, als sie an sie dachte und wandte sich vom Fenster ab. Sie griff nach ihrer Tasche, zog ein Bild ihrer beiden ältesten Töchter, Sanju und Sinaida, hervor und setzte sich auf das Bett, um es zu betrachten. Dabei fuhr sie mit dem Daumen sachte über Sanjus lächelndes Gesicht. Auf diesem Bild konnte sie es noch sehen, das kleine Mädchen, das sie einmal gewesen war. So viel Lebenslust in ihren Augen, so viel drängende Energie. Sie hatte sein wollen wie Eric. Sein wollen wie Donnie. Ihre großen Vorbilder, die strahlenden Helden ihrer Kindheit. Die hochdekorierten Soldaten in ihren prächtigen Uniformen, die sie so vergöttert hatte und die sie ihrerseits innig geliebt hatten. Doch Anouk hatte immer daran gezweifelt, ob der Weg in den Marine Corps der richtige Weg für Sanju gewesen war. Donnie und Eric hatten es auf ihre Abneigung gegen die Kriegseinsätze der Spezialkräfte geschoben und zum Teil hatten sie damit auch durchaus recht gehabt. Als Kriegskind und direktes Opfer seiner mannigfaltigen Grausamkeiten hielt sie jegliche Glorifizierung von Kriegshandlungen für Heuchelei. Krieg hatte nichts heroisches an sich. Er sorgte nur dafür, dass die, die sich ihm stellen mussten, irgendwann ausbrannten und abstumpften, wenn sie überleben wollten. Ob es durch einen einzigen, ganz bestimmten Vorfall oder Verlust oder schlicht mit der Zeit geschah, war dabei gleichgültig. Sie hatte das für ihre Tochter nicht gewollt. Doch es war mehr gewesen als das. Es war das unwillkürliche Gefühl einer Mutter gewesen, dass dieser Weg nicht der wahren Natur ihrer Tochter entsprach. Zwar war es ihr eigener, unbedingter Wille gewesen, jedoch gestützt auf die falschen Grundsätze - auf den Durst sich zu beweisen und den Hunger nach Anerkennung. Auf das Verlangen, endlich eine Erwachsene zu sein. Endlich dazuzugehören zu denen, die sie schon so lange anhimmelte. Und sie war begabt, daran zweifelte Anouk keine Sekunde. Donnie hatte ihr immer wieder stolz berichtet, wie gut sich Sanju in der Grundausbildung und in den frühen Einsätzen geschlagen hatte und Anouk hatte gelächelt und versucht sich mit ihm zu freuen. Sich mit ihr zu freuen. Doch es war immer ein bitterer Beigeschmack dabei geblieben für sie, die Gewissheit, dass irgendwann etwas geschehen würde, was dem Ganzen ein schlimmes Ende setzen würde. Es war zu perfekt gewesen. Und obwohl Anouk wusste - und auch schon damals gewusst hatte - dass ihre eigene Vergangenheit dafür sorgte, dass sie zuweilen Schatten an Wänden huschen sah, die nicht da waren, hatte sie das Gefühl einfach nicht abschütteln können.
    Doch dann war es geschehen. Dann war Corsho gekommen, die Seuche, Sanjus Infizierung. Anouk musste an die Worte denken, die ihre Tochter im Gerichtssaal gewählt hatte, um zu beschreiben, wie es sich angefühlt hatte im Sterben zu liegen. "Ich glaube nicht, dass man es richtig beschreiben kann...", hörte sie sie sagen. "Man liegt im Delirium und fiebert und alles, was man von der Welt noch mitbekommt, ist Schmerz. Es ist als... wäre ein Kriegsschlachtfeld im Körper. Ich weiß nur noch, dass ich vor Schmerzen immer wieder aufgewacht bin und manchmal dachte, ich weine, aber es war Blut, das mir aus den Augen und aus der Nase lief und ich konnte nicht mal die Hand heben, um es wegzuwischen. Irgendwann... weiß man selbst im Delirim, dass man bald stirbt." Anouk hatte alles an ihr wahrgenommen in diesem Moment. Ihren starren Blick, der niemanden fokussiert, sondern in eine unbestimmte Ferne geblickt hatte. Das Zittern in ihrer Stimme bei manchen Worten. Die zu Fäusten geballten Hände. Ihre ganze Haltung hatte Widerstand ausgedrückt, schon als sie den Gerichtssaal betreten hatte. Sie hatte nicht dort sein, nicht darüber sprechen wollen. Sie hatte vergessen wollen. Und genau das war es, was Anouk Angst machte. Denn es gab eine weitere Grausamkeit, die Krieg einem Wesen antun konnte - er konnte es traumatisieren. Sie wusste, dass es so war und sie wusste, wie es sich anfühlte, auch wenn sie den Kindern gegenüber nie davon gesprochen hatte und es auch sonst kaum tat. Doch in Sanjus Augen hatte sie die Andeutung einer Leere gesehen, vor der es ihr graute.
    Am zweiten Verhandlunstag - also heute - war Sanju erneut dort gewesen. Diesmal nicht als Zeugin, sondern als Angehörige. Sie hatte bei Donnie gesessen und war dem Prozess mit ernster Miene gefolgt. Anouk hatte gesehen, wie sie hatte aufspringen wollen, als man ihre Mutter als cardassianische Spionin beschimpft hatte und wie Donnie nur mühsam in der Lage gewesen war, dies zu verhindern. Sie hatte die Wut in ihren Augen gesehen. Und dass sie keine Uniform getragen hatte. Es schien eine Kleinigkeit zu sein, da sie an diesem Tag nicht mehr würde aussagen müssen und von daher in Zivil hatte erscheinen können, doch Anouk war klar gewesen, dass Sanju vor diesem Vorfall immer in Uniform zu einer solchen Gelegenheit gekommen wäre. Sie hatte sich als Soldatin gefühlt, war stolz darauf gewesen, hatte sich mit ihrer Uniform identifiziert. Doch jetzt schien sie sie kaum schnell genug vom Leib kriegen zu können.
    Nach dem Urteil hatte Anouk nur kurz mit ihrer Familie sprechen können, es hatte kaum für mehr als ein paar tröstende Sätze und einige Umarmungen gereicht und so stand ein wirklich ausführliches Gespräch mit Sanju immer noch aus, obwohl bereits fast ein halbes Jahr seit Corsho vergangen war. Sie hoffte, es würde bald dazu kommen, denn es stand eine Veränderung für Sanju bevor, da war sie sich sicher. Wenn sie konnte, würde sie ihr helfen. Doch sie war sich in diesem Moment, als die Sonne draußen für diesen Tag endgültig versunken war und das Licht in den Zellen angeschaltet wurde, nicht sicher, ob sie es konnte.

    Es war etwa eine Stunde her, dass man ihr gesagt hatte, dass sie Besuch erhalten würde. Ihr Herz hatte einen Satz gemacht, Adrenalin durch ihre Adern gepumpt. Konnte es sein, dass Eric sein Wort wahr gemacht hatte und sie endlich ihre Familie würde sehen dürfen nach all der Zeit?
    So kam es, dass sie die Nachricht, dass es ihr Anwalt Mr. Turner war, der sie bald beehren würde, mit eher gemischten Gefühlen aufgenommen hatte. Sie mochte den Mann, sie würde lügen würde sie das Gegenteil behaupten. Doch er war es nicht, den sie zu sehen gehofft hatte. Allerdings war sie widerstandslos in den Aufenthaltsraum gefolgt, in dem sie mit ihm sprechen durfte. Eine wunderbare Abwechslung von der Zelle, in der sie kaum Ablenkung und kaum geistige Nahrung erhielt. Für eine intelligente und für gewöhnlich immer beschäftigte Frau wie sie, war dies mit das Schwerste an der gegenwärtigen Situation. Die Langeweile und Unterforderung höhlten sie aus und dämpften jede Gefühlsregung auf ein Minimum herunter. Es mochte darum sein, dass sie Mr. Turner sehr viel erfreuter entgegen sah als beim letzten Mal. Er war eine Abwechslung. Ein Mensch, mit dem sie eine Weile reden konnte und der ihr Neuigkeiten brachte. Ein Mensch, der ihr das Gefühl gab, dass es noch eine Außenwelt gab, die sie nicht ganz vergessen hatte.
    Und so grüßte sie Mr. Turner und musterte ihn kurz. Er wirkte aufgeregt und nervös, allerdings auf eine Art, die sie an ihre Kinder erinnerte, wenn sie eine selbstgebastelte Überraschung hinter ihrem Rücken versteckt hielten, um sie damit zu überraschen. Eine fiebernde Unruhe, die aus dem Wunsch nach Anerkennung und Freude resultierte. Und so wunderte es sie nicht, dass er ihr ankündigte gute Neuigkeiten für sie zu haben.


    "Es ist so, dass zunächst Fdm DeLassal das Besuchsverbot mit einem Eilantrag an den entsprechenden Richter zur Aufhebung gebracht hat... dies bedeuet, Sie werden aus dem Einzelvollzug in den allgemeinen Vollzug überstellt, jedoch bleiben Sie in einer Einzelzelle. Somit sind Sie befugt, jeglichen Besuch zu empfangen, natürlich unter Registrierung und Überwachung. Desweiteren können Sie nun die anderen Mitangeklagten sehen und mit ihnen sprechen, sofern Sie dies wünschen. Und da wäre noch etwas..."


    Anouk schaltete seine Überleitung zum nächsten Thema für einen Moment aus und schloss die Augen. Die Erleichterung, die seine Worte mit sich brachten, erfüllte sie ganz und gar. Sie würde ihre Familie sehen können. Sie würde die Anderen sehen können. Ssihanna sehen können, um die sie sich ganz besonders sorgte. Eric hatte es wahr gemacht und sein Wort gehalten. Und sie wusste nicht, ob sie ihm je zuvor schon einmal so dankbar gewesen war. Wie wunderbar der Gedanke war, der quälenden Isolation zu entkommen, verdeutlichte ihr einmal mehr, wie sehr man Kleinigkeiten genießen musste, die man sonst für selbstverständlich hinnahm.
    Doch schließlich konzentrierte sie sich wieder auf Turners nächste Worte und unwillkürlich runzelte sie die Stirn. Andere Ursachen für die Explosion... ein technischer Fehler im Schiff? "Aber dennoch war der Schuss der Auslöser für die Explosion, oder nicht? Hätte dieser technische Fehler so oder so zur Detonation geführt, auch ohne den Feuerbefehl?" Anouk neigte sich vor. "Denn nur dann kann es Schuld von mir nehmen. Wenn der Schuss der Auslöser gewesen war, spielt der technische Defekt keine Rolle. Zumindest nicht für mich. Dann waren meine Befehle noch immer der Auslöser für all die Toten, Mr. Turner." Ihr Blick verfinsterte sich. Nie mehr würde sie von sich behaupten können, nie ein Leben ausgelöscht zu haben. "Und ja, mir ist klar, dass das juristische Vorteile bringen kann. Die Frage gilt lediglich meinem Gewissen."
    Auf seine Verwunderung bezüglich Erics Sinneswandel, schwieg sie sich aus. Er würde es nicht verstehen und sie wollte es ihm nicht erklären. Es war wohl auch nicht erklärbar. Eric und sie hatten sich schon oft genug verletzt und dennoch genauso häufig wieder zusammen gerauft. Sie blieben nie Feinde für immer.
    "Ich möchte Ssihanna sehen, wenn das möglich ist", bemerkte sie. "Sie hat gerade ihren Vater verloren und folgte mir trotzdem nach, um ihre beste Freundin zu retten. Dafür sitzt sie nun im Gefängnis... ich möchte sie sehen. Bitte."

    Anouk verhielt sich die meiste Zeit reglos, während sie dem ihr zugeteilten Anwalt, Commander Turner, lauschte. Sie spürte eine Erstarrung, die sie bereits kannte, die sie ihr ganzes Leben lang begleitet hatte, wenn ihr etwas Schreckliches widerfahren war. Seit ihrer Kindheit als bajoranische Gefangene unter den Cardassianern kannte sie das Gefühl, dass sich eine Art betäubendes Öl auf ihre Seele zu legen schien, wenn Situationen ihr Angst gemacht oder sie überfordert hatten. Die Leute um sie herum hatten sie aufgrund dieser Eigenschaft oft für gefühlskalt gehalten, doch das war nur das Ergebnis, das man von außen sehen konnte. Unterhalb dieser betäubten Oberfläche wütete ein Sturm.
    Und so nahm sie auch jetzt eher die Fakten in dem auf, was der Commander ihr erklärte. Eine eventuelle Mordanklage. Die Beweise waren schwer zu sichern. Voller Arrest. Sie würde ihre Familie also noch länger, vielleicht sehr lange nicht sehen. Ein Teil von ihr war erleichtert darüber, diese Konfrontation hinauszögern zu können. Auch dies entsprach ihrer Art. Sie war nie gut in Konfliktsituationen gewesen, wenn sie über Dienstkonflikte hinausgegangen waren. Für gewöhnlich hatte sie versucht, ihnen aus dem Weg zu gehen. Doch in einem Gefängnis konnte sie nicht davon laufen, egal vor wem. Allerdings war dies nur die eine Seite der Medaille, denn ihre Familie fehlte ihr. Wie die meisten anderen Individuen auch, sehnte sie sich danach, jemanden in ihrer Ecke zu haben, der die Last mit ihr teilte. Der sie festhielt, während ihre Welt um sie herum zusammenbrach. Der nicht zuließ, dass sie in den vielen einsamen Stunden in dieser Zelle verrückt wurde, in denen ihr nichts als ihre wirren Gedankengänge blieben, mit denen sie sich beschäftigen konnte.


    Erst als Turner sie darum bat, ihm die ganze Geschichte aus ihrer Sicht zu erzählen, ließ ihre Starre ein wenig nach und sie sah ihn an. Aufmerksamer diesmal. Sie saß einem großen, schlanken Mann gegenüber, dessen Haar bereits ergraut war und dessen blaue Augen sie ernst und nicht minder aufmerksam anblickten. Er war ihr sympathisch, es ging eine beflissene Behutsamkeit von ihm aus, die ihr das Gefühl gab, wirklich ehrlich zu ihm sein zu können. Doch sie hatte gelernt, über den ersten Eindruck hinaus vorsichtig zu sein. Man würde sehen.
    Nun richtete sie sich in ihrer Haltung erstmals richtig auf und strich sich die Strähnen, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatten, zurück. Sie sah nicht sonderlich gut aus, das war ihr bewusst. Man musste ihr die durchwachten Nächte und die geweinten Tränen ansehen. "Verzeihen Sie mir, Commander Turner, ich fürchte, ich bin nicht ganz ich selbst zur Zeit", kommentierte sie dies und versuchte sich an einem halben Lächeln mit geschlossenen Lippen, um ihm sein eventuelles Unbehagen aufgrund ihrer Emotionslosigkeit ein wenig zu nehmen. Doch es verschwand beinahe im selben Moment wieder und sie sammelte sich, um die Geschichte zu erzählen. Zwar warnten alte, anerzogene Reflexe sie davor, diesem Mann zu schnell zu vertrauen und sagten ihr, dass er nur ein Pflichtverteidiger war, der seine Karriere damit puschen wollte, in diesem sicher sehr populären Fall eine ausschlaggebende Rolle zu spielen, doch sie achtete nicht darauf. Sie wollte sich ihrer Verantwortung nicht entziehen und wenn sie die Chance haben konnte, jemandem wirklich in Ruhe ihre Sichtweise der Dinge darzulegen, dann wollte sie dies tun. Selbst wenn es ihr nichts anderes bringen würde, als die Erleichterung, ihre Gedanken endlich laut aussprechen zu können und sie nicht weiterhin nur in ihrem Kopf hin- und herschieben zu müssen.


    "Vor etwa zwei Wochen - ich habe die genaue Sternzeit nicht im Sinn, Sie finden sie in den Akten des CDC - wurde uns der Ausbruch einer Infektion auf Corsho gemeldet. Aufgrund ihrer rapiden Ausbreitung und der beschriebenen Symptome war davon auszugehen, dass es sich dabei um eine virale Infektion handeln musste. Wir begaben uns in das betroffene Gebiet, um den Virus näher zu untersuchen, ein Heilmittel zu entwickeln. Es war die übliche Vorgehensweise, alles verlief standardmäßig, weswegen es darüber nicht viel zu berichten gibt. Wenn Sie Details unserer Arbeit interessieren bis zu dem Zeitpunkt, an dem das Militär sich einschaltete, finden Sie auch das in unseren Akten protokolliert. Ich nehme an, dass Sie richterlichen Zugang zu diesen Unterlagen erhalten werden, wenn Sie als mein Anwalt fungieren."
    Hier unterbrach sich Anouk nun zum ersten Mal kurz. "Es dauerte keine zwei Tage bis das MRIID unter der Leitung von General Tokusawa ankam", fuhr sie schließlich fort. "Und von Anfang an erschien es mir merkwürdig. Sicher, der Virus war extrem aggressiv, hochansteckend und hatte eine hundertprozentige Mortalitätsrate und es war dem MRIID ein Bericht darüber bekannt, weil das die Standardvorgehensweise ist. Aber ich hatte den Bericht selbst geschrieben, darum wusste ich mit Sicherheit, dass darin kein Gesuch um Unterstützung enthalten war. Und dennoch stand die General mit ihrer Squad auf Corsho und zwar nicht zur Unterstützung, sondern zur Übernahme des Falls. Entsprechende Befehle von Field Marshall DeLassal an mich als Leiterin des CDC hatte sie bei sich. Also kehrte ich auf Shepard zurück, um Eric - den Field Marshall, meine ich - mit der Frage zu konfrontieren, was die ganze Sache sollte. Ich war so schnell von der Sache abgezogen worden, dass ich keine vernünftigen Testergebnisse hatte, zumindest keine ausreichenden, um wirklich an einem Antiserum arbeiten zu können. Virologie ist mein Fachgebiet, wie Sie sicher wissen, Mr. Turner und ich hätte auf Corsho wertvolle Arbeit leisten können. Der Field Marshall sagte mir jedoch, ich werde bei einem Ausbruch des Tropxe-Virus gebraucht und dies sei der Grund, weswegen er mich von Corsho abgezogen habe. Ich habe ihm kein Wort geglaubt. Dieser Virus wurde kurz nach dem Ende des Undinen-Krieges bereits erforscht, es gab keinen Grund, warum man mich dort dringender brauchen würde als auf Corsho. Es war ganz offensichtlich eine Ausrede."
    Wieder schwieg Anouk einen Moment, während sie an jene Szene zurückdachte. "Wir stritten uns, doch er wollte nicht nachgeben. Er spielte die Vorgesetzten-Karte aus und bestand auf seine Befehle, doch mir war klar, dass mehr dahinter stand. Spätestens nach dem Gespräch mit ihm. Und ich ahnte schon zu diesem Zeitpunkt, dass es mit Militärgeheimnissen zu tun haben musste, die mir wohl nicht gefallen würden. Darum hatte er mich abgezogen und nur darum. Doch dort starben Menschen, Commander, ich konnte nicht einfach so tun als ginge mich das Ganze nichts an. Also befolgte ich seine Befehle nicht, sondern kehrte heimlich zurück nach Corsho, hielt mich im Hintergrund innerhalb der Quarantänezone. Zu meinem Glück war es das reine Chaos dort, eine richtige Struktur schien noch niemand zu haben, also fiel ich nicht weiter auf. Aber dann..."
    Bisher hatte sie sehr ruhig gesprochen, doch jetzt zitterte ihre Stimme zum ersten Mal und sie hielt inne, legte sich eine Hand an die Lippen und schloss kurz die Augen. Die Erinnerung an den Schock war noch immer schmerzhaft. "Dann infizierte sich Ihre Tochter Sanju mit dem Virus...", hörte sie die leise Stimme des Commanders, der ihr somit über diese Schwelle half. Anouk nickte langsam. "Sie... sie gehörte zur Squad um Major-General Tokusawa. Ich wusste das, wusste, dass sie auf Corsho dabei war, aber habe mir ihretwegen keine wirklichen Sorgen gemacht. Es gab Kraftfelder, Schutzanzüge, Anweisungen für jeden Schritt und Sanju ist ein guter Soldat, das weiß ich. So wenig es mir gefällt, aber es ist so. Ich... habe mich nicht mit dem Gedanken belastet, dass sie sich infizieren könnte. Ebenso wenig wie ich mich mit dem Gedanken belaste, dass ich mich selbst infizieren könnte. Man lernt, solche Ängste von sich fern zu halten, sonst könnte man nicht arbeiten. Aber ja... ich bekam mit, wie sie zu Lieutenant Miller, dem Arzt der Squad gebracht wurde. Mit einem Riss im Schutzanzug, den sie sich beim Stapeln der Toten zugezogen hatte und einer positiven Diagnose. Und wie ich schon sagte - dieser Virus hatte eine hundertprozentige Mortalitätsrate. Es war ihr Todesurteil, wenn kein Wunder geschah. Und ich glaube nicht an Wunder. Nur an mich selbst und bestenfalls an die Leute um mich herum." "Und darum nahmen Sie die Sache selbst in die Hand...", schlussfolgerte Commander Turner und Anouk neigte sich leicht zu ihm vor. "Haben Sie Kinder, Commander? Glauben Sie mir, wenn Sie welche haben und wie ich gesehen hätten, was dieser Virus mit denen tat, die er einmal in seinen Klauen hatte, dann hätten Sie es auch nicht ertragen. Er schlachtet die Infizierten geradezu aus, wütet in ihnen wie eine kleine Granate, frisst sich durch die Organe und lässt den Organismus einen grausamen Tod sterben. Er zerstört ihn so gründlich, dass wir nicht einmal ausreichend Schmerzmittel geben können, um den Tod schmerzlos zu gestalten ohne die Kranken bereits mit diesen zu töten und sie einzuschläfern wie Tiere. Ich könnte Ihnen jetzt viele Fachbegriffe nennen, um diesen Virus zu beschreiben, doch ich denke, Sie verstehen meinen Punkt. Und das konnte ich nicht zulassen. Ich wollte es von Anfang an nicht zulassen, auch nicht für all die Infizierten, die ich nicht kannte. Meine Motivation zu tun, was ich tat, galt nicht ausschließlich der Rettung meiner Tochter. Aber ich gebe zu, dass durch ihre Erkrankung die letzten Zweifel wichen. Es gab jetzt keinen anderen Weg mehr für mich. Ich konnte sie nicht so sterben lassen, ohne zumindest alles versucht zu haben, um ihr dieses Schicksal zu ersparen."
    Anouk musste in paar Mal tief durchatmen nach dieser Ansage und versuchte, sich an die genaue Reihenfolge der weiteren Ereignisse zu erinnern. "Dann tauchte plötzlich Field Marshall DeLassal in diesem Zelt auf", fiel ihr ein. "Er drückte Lieutenant Miller eine Infusion in die Hand. Kommentarlos. Und wie Sie wissen, Commander Turner, ist Field Marshall DeLassal viele Dinge, aber mit Sicherheit kein Mediziner. Als Miller selbst nicht nachfragte, tat ich es. Ich wollte wissen, was in dieser Infusion war. Und wie sich herausstellte: Es war ein Antiserum für den Virus, den wir bekämpften. Das Militär hatte es die ganze Zeit über in einem ihrer Schränke gehabt." Man merkte ihr an, dass sie ihren Zorn nur sehr mühsam unterdrücken konnte. "Dumm war nur, dass es nicht mehr anschlug, da der Virus inzwischen mutiert war. Verstehen Sie, was das bedeutet, Commander?"
    Nun stand sie auf und ging in der Zelle auf und ab, sie musste ihren Zorn in Bewegung ertränken. "Sie hatten es die ganze Zeit über! Sie hätten den Ausbruch eindämmen können, sofort, schon zu Beginn! Und haben es nicht getan, weil sie ihre perfekte biologische Waffe schützen mussten! Deswegen stand das Militär vor der Tür sobald sie meinen Bericht gelesen hatten! Deswegen wurde ich abgezogen und mit Ausreden abgespeist! Sie haben die Leute sterben lassen und bis zur letzten Sekunde gewartet, um mit dem Antiserum rauszurücken, so lange bis es zu spät und der Virus mutiert war! Und glauben Sie ja nicht, dass sie nun plötzlich aus reiner Nächstenliebe heraus das Antiserum zur Verfügung gestellt hätten - oh nein. Es war ein Test. Der Befehl von der Präsidentin lautete, zu testen, ob sich der Virus damit würde eindämmen lassen. Sollte das nicht der Fall sein, sollte die Kolonie komplett durch Bomben ausgelöscht werden, um eine weitere Ausbreitung zu verhindern. Drei Tage hatten die Infizierten noch, der Field Marshall hat es mir selbst bestätigt."
    Nun wirkte sie plötzlich wieder sehr müde, regelrecht grau im Gesicht und traurig sah sie ihren Anwalt an, bevor sie sich langsam wieder auf ihren Stuhl sinken ließ. "Wissen Sie, Mr. Turner... ich habe einmal an die Föderation geglaubt. An ihre Ideale. Ich wurde von Cardassianern großgezogen und kenne ihre Art der Staatsführung und der Rechtssprechung nur zu gut. Alles, was ihnen unbequem war und nicht in ihr Konzept passte, wurde vernichtet. Als ich mit siebzehn Jahren in die Föderation floh, war sie für mich das Paradies. Ein Traumland, in dem alles möglich war. Dessen hohe Ideale den meinen entsprach und das durch sie die Zeiten überdauern würde. Aber jetzt..." Tränen stiegen ihr langsam in die Augen. "...jetzt ist die Föderation nur noch eine weitere Großmacht im Wettstreit um die Oberherrschaft im Alpha-Quadranten. Wissen Sie, was Field Marshall DeLassal zu mir sagte, als ich ihn wegen der biologischen Waffe konfrontierte: 'Wir müssen uns gegen die Wahnsinnigen da draußen wehren können, die biologische Waffen einsetzen. Die Ärzte haben alles getan. Jetzt müssen wir handeln wie Soldaten.' Das hat er gesagt. Zweitausend Infizierte sollten durch Bomben vernichtet werden. Und da wusste ich: Alles, woran ich einmal geglaubt habe, ist tot, Mr. Turner. Meine Föderation gibt es nicht mehr. Krieg hat sie verändert und verformt und alle Unschuld aus ihr herausgesaugt. Das ist es, was Krieg immer tut. Staaten sind nicht anders als Individuen."
    Sie brauchte einen kurzen Moment, um den Schmerz, der in ihr aufstieg, wieder einzudämmen. Erst als sie sicher war, dass sie ruhig würde weitersprechen können, fuhr sie fort. "Ich überredete die Squad, mit mir zu kommen", sagte sie, wissend, dass es nicht völlig der Wahrheit entsprach. Sie waren ihr freiwillig gefolgt, aus eigenem Antrieb. Zumindest Ssihanna und Lieutenant Miller. Bei den beiden Privates war sie sich nicht völlig sicher. Doch das würde sie niemals laut aussprechen. Wenn sie ihnen helfen konnte, aus dieser Sache mit einem blauen Auge herauszukommen, dann würde sie es tun. "Ich erbeutete die Biohazard One und legte dem Colonel dort gefälschte Befehle vor, um das Kommando zugesprochen zu bekommen. Ich leugne nichts davon. Die Vorwürfe sind wahr, Commander Turner. Aber sie sind es nicht, weil ich kriminell handeln wollte. Sie sind es, weil man mir keine Unterstützung gewährte in dem Versuch, diese Leute vor dem Tod zu bewahren, sondern sie im Geiste schon begraben hatte unter Tonnen von Asche. Ich zog los, um das Wirtstier zu suchen. Wenn wir es finden würden, könnten wir von vorne anfangen. Die Chance war da, dass es das Antiserum für beide Virenstämme in sich trug, den alten und den mutierten oder dass man es zumindest aus seinem Blut würde bilden können, auch wenn man ein wenig synthetisch hätte werden müssen. Klar war nur, dass wir ohne es keine Chance hatten. Deswegen nahm ich Zugriff auf die alten Akten und ließ Kurs setzen auf das Emkara-System, wo der Virus vor Jahren wohl zum ersten Mal ausgebrochen war. Und tatsächlich fanden wir das Tier. Ich glaube an keinen Gott, Commander und auch nicht an die Propheten, auch wenn ich Bajoranerin bin. Aber dieser Fund war wie ein Wink von einer höheren Macht. Wir beamten zurück auf die Biohazard One und ich wollte gemeinsam mit Miller versuchen, das Antiserum zu kreieren. Doch dazu kam ich nicht mehr..." "... weil die Delta Force One sich Ihnen in den Weg stellte.", half ihr Anwalt ihr einmal mehr weiter und Anouk nickte.
    Sie schwieg lange und war sie zuvor müde, traurig und wütend gewesen, so wirkte sie nun schlicht gequält. "Ich wollte nie, dass jemand stirbt. Ich wollte nie, dass jemand verletzt wird. Im Gegenteil, ich war doch auf dem Weg, um 2000 Leute zu retten, nicht um zu töten! Ich musste eine Entscheidung treffen, Commander, eine schnelle Entscheidung. Ich habe versucht, den Major davon zu überzeugen, uns nach Corsho zurück zu geleiten, sobald wir das Antiserum haben, habe ihm mehrfach gesagt, dass wir das Wirtstier gefunden haben, doch er wollte nicht auf mich hören. Er wollte uns festsetzen, wie es seinen Befehlen entsprach, aber dann wäre es nie zur Entwicklung des Antiserums gekommen, an der wir nun so nahe dran waren, denn die Würfel waren für die Präsidentin und den Field Marshall ja längst gefallen! Ich... ich sah keinen anderen Ausweg, Commander. Ich schwöre Ihnen, ich wollte nur, dass die Delta Force One kampf- und manövrierunfähig geschossen wird, damit sie uns nicht mehr würde verfolgen können. Ich... habe keine Ahnung von Waffentechnik und Taktik. Und als die Schüsse das halbe Schiff auseinander rissen, da..." Sie hielt inne und holte tief Luft. Sie zitterte inzwischen am ganzen Körper, die Last der Toten schien sie in ihrem Stuhl niederzudrücken. "Es ist meine Schuld, Mr. Turner. Ich hätte nie befehlen dürfen zu schießen, war so naiv zu denken, dass der Crew nichts passieren würde. Ich übernehme die volle Verantwortung für die Toten und die Verletzten. Doch eines müssen Sie mir glauben: Es war kein Mord. Kein Vorsatz. Nur... Dummheit und Naivität und Verzweiflung", sagte sie leise.
    Eine Weile schwiegen sie nun beide. "Gibt es noch mehr zu berichten?", fragte der Commander irgendwann leise und Anouk schüttelte den Kopf. "Nein. Wir kehrten zurück nach Corsho, nachdem Lieutenant Miller das Antiserum entwickelt hatte und verabreichten es den Kranken. Dann wurden wir festgenommen." Sie sah nun wieder auf. "Darf ich Sie um ein paar Dinge bitten, Mr. Turner?", fragte sie leise und als er nickte, sprach sie weiter. "Bitte versuchen Sie dafür zu sorgen, dass die Squad nicht ebenso hart bestraft wird wie ich. Sie sind mir gefolgt. Ich war diejenige, die das Schiff gestohlen hat. Ich war diejenige, die den Befehl zum Schießen gegeben hat. Man kann Ihnen nur eine Befehlsverweigerung zum Vorwurf machen, weil sie mir folgten. An allem anderen sind sie unschuldig. Und dann... würden Sie bitte... meine Tochter für mich besuchen und mir sagen, wie es ihr geht? Ich möchte nur wissen, ob sie gesund wird. Und... wenn es nicht zu unwichtig ist... könnten Sie mir vielleicht einige Bücher besorgen? Es ist gleichgültig, welche es sind. Es müssen auch keine PADDs sein, ich weiß, dass man mir keine Technik in die Hand geben will. Gebundene Bücher wären auch gut. Ich würde nur gern... ab und an auf andere Gedanken kommen." Erschöpft sah sie ihn nun an und wartete auf seine Antwort.

    Anouk saß in der Zelle, in die man sie auf Shepard gesteckt hatte und starrte vor sich hin. Seit Stunden tat sie nichts anderes und war äußerlich vollkommen ruhig, während in ihrem Inneren ihre Gedanken rasten, sie sich überschlugen und ihr wieder und wieder die Bilder vor ihrem geistigen Auge abspielten, die sie so dringend zu vergessen suchte.
    Sanju, wie sie totenbleich, mit blauen Lippen und blutunterlaufenen Augen auf dem Biobett lag, nur noch ein seidener Faden sie am Leben hielt, während das Virus unbarmherzig versucht hatte, diesen zu kappen. Die U.S.S. Delta Force One, die durch eine mächtige Explosion erschüttert im All trieb, auf einen Feuerbefehl hin, den sie gegeben hatte...
    In ihren Träumen, denen im Schlaf und auch den Tagträumen, welchen sie hier in ihrer Zelle ausgeliefert war, verwandelte sich dieses Schiff immer und immer wieder in die U.S.S. Nighthawk, die vor über zwanzig Jahren durch die Hand von Tal Shiar-Schiffen brutal aus dem Dasein gerissen worden war - und mit ihr die gesamte Crew. Unter ihnen Anouks damalige beste Freundin Joliet.
    Doch diesmal war sie das Tal Shiar-Schiff gewesen. Diesmal hatte sie schießen lassen. Sicher, sie hatte nur gewollt, dass die Delta Force One kampf- und manövrierunfähig geschossen werden würde, damit sie sie nicht mehr würde verfolgen können auf ihrer selbsternannten Mission das Wirtstier zu finden, um die kranken Menschen der Kolonie vor einem grauenhaften Tod zu bewahren - ob durch das Virus oder durch die Bombe, die man ihnen hatte schicken wollen.
    Aber es hatte nicht funktioniert. Ihr verträumter Gedanke, nur das Schiff zu beschädigen und der Besatzung kein Haar zu krümmen, war mit einer Realität kollidiert, die jedem Offizier hätte klar sein können. Sie hätte es wissen müssen, zumindest in Betracht ziehen müssen, doch sie hatte es nicht wissen wollen. Sie hatte eine Entscheidung getroffen und das Leben ihrer Tochter über das der Besatzung der Delta Force One gestellt. Und nun hatte sie 137 Leben auf dem Gewissen.
    Anouk vergrub ihr Gesicht in den Händen, während der Stich dieses grausamen Fakts sich erneut durch sie hindurch bohrte. Sie, deren höchstes Credo es immer gewesen war, Leben zu erhalten. Sie, die in ihrem Leben bereits so viel Krieg und so viele Sterbende gesehen hatte und deren höchster Wert es immer gewesen war, das Leid und den Tod so sehr einzudämmen wie irgend möglich. Sie, die Ärztin geworden war und sich ihr ganzes Leben lang den Idealismus erhalten hatte, den dieser Beruf mit sich brachte, wenn es um den Schwur ging, dass das Leben vor allem anderen stand. Sie, die so selten sie konnte überhaupt eine Waffe zur Hand genommen hatte, weil jeglicher Krieg und Kampf ihr zuwider gewesen war - sie saß nun hier, weil all diese Leute eines Befehls wegen, den sie erteilt hatte, ihr Leben verloren hatten.
    Immerhin wusste sie, dass Sanju sich auf dem Weg der Besserung befand. Das Antiserum, das sie hatten entwickeln können, nachdem sie das Wirtstier tatsächlich ausfindig gemacht hatten, hatte seine Wirkung sofort entfaltet. Doch es würde ein paar Tage dauern bis die Erkrankten wieder wirklich gesund sein würden. Zu groß waren die Schäden gewesen, die dieser miese Einzeller angerichtet hatte. Anouk hatte die Hoffnung, dass Sanju sie vielleicht bald besuchen durfte, ebenso wie der Rest ihrer Familie, die bisher noch nicht zu ihr gelassen worden waren.
    Mit Angst dachte sie an das erste Zusammentreffen mit ihrem Mann, ihrer Tochter Ida und den Zwillingen Elena und Jamie. Sie wusste nicht, wie sie ihnen in die Augen sehen sollte mit der Anklage, die über ihr schwebte. Mit all den Toten und Verletzten auf der Liste, die für immer an ihre Tür genagelt werden musste. Immer hatten ihr alle gesagt, dass sie überreagierte, wenn sie sich die Schuld an Joliets Tod gegeben hatte, obwohl sie wusste, dass sie damals diejenige gewesen war, die sie und Eric auf die Nighthawk getrieben hatte und in die Katastrophe, die letztendlich zu ihrem Tod geführt hatte. Doch hier und heute würde niemand etwas beschönigen können. Die geretteten Kranken wogen die toten Marines, Offiziere und Crewmen nicht auf. Wer der Meinung war, dass man ein Leben mit einem anderen ersetzen und auf diese Weise die Waage im Gleichgewicht gehalten werden konnte, machte sich etwas vor.
    Und doch spürte sie auch einen Funken Wut in sich. Wut auf die Art und Weise, wie die Präsidentin, ihr Beraterstab und Eric als ihr Schoßhündchen diese Sache gehandhabt hatten. Wut darüber, dass man sie nicht konsultiert hatte, obwohl Virologie ihr Fachgebiet war, nur um die perfekte biologische Waffe zu schützen. Wut darüber, dass man fast 2000 Leben hatte opfern wollen, um sich selbst zu schützen, anstatt zumindest den Versuch zu wagen, den Virus durch das Auffinden des Wirtstieres unter Kontrolle zu bringen. All die Anklagepunkte, die man gegen sie erheben würde, würden der Wahrheit entsprechen, aber nur, weil man sie mit dem verzweifelten Versuch die Lage doch noch zu retten und der Weigerung sie dabei zu unterstützen, in die Kriminalität gezwungen hatte. Man hätte die Situation von oben anders lösen können. Anders lösen müssen, wenn man sich den großen Idealen, auf denen die Föderation ruhte, wirklich verpflichtet fühlen würde.
    Müde fuhr sie sich über die Augen. Doch sie konnte nicht schlafen, schon den zweiten Tag nicht. Der Horror dieser ganzen Angelegenheit ließ sie einfach nicht zur Ruhe kommen. Ihre Gedanken wanderten zu denen, die zu ihr gehalten hatten während dieser Mission. Zu den Marines, die ebenso nicht hatten daneben stehen können, während die Rettung der Biowaffe wichtiger gewesen war als die Rettung der Sterbenden. Während Unschuldige hatten hochgebombt werden sollen. Während ihr Squadmitglied und ihre Freundin einen grausamen, sinnlosen Tod starb. Und die dafür nun ebenfalls in Zellen saßen. Wayne Miller, der ein großartiger Arzt war und aus dem so viel hätte werden können. Die beiden Privates Matula und Riley, die ihre junge Karriere für diese Sache aufs Spiel gesetzt hatten. Und Ssihanna, Sanjus beste Freundin, die gerade ihren Vater hatte begraben müssen, da die Borg ihn ihr und ihrer Mutter entrissen hatten. Die mit ihrer Trauer nun völlig allein einsaß, weil sie Sanju nicht hatte sterben lassen können und Tränen traten ihr in die Augen. Sie ließ zu, dass sie ihr die Wangen hinunter liefen. Es spielte keine Rolle mehr. Sie musste für niemanden mehr stark sein. Und während die stummen Tränen allmählich mehr wurden, sie schließlich aufschluchzte und das Gesicht erneut weinend in den Händen vergrub, dachte sie an ihre Schwester Fiona, die vor Jahren gestorben war und die wohl die einzige Person gewesen war, die sie jemals richtig gekannt hatte. Sie fehlte ihr. Heute mehr denn je.