Ein letzter Weg

  • Iman'Dra sah von den Zinnen der Feste Tron'Jenars hinab über den Innenhof und das so vertraute Umland, wie sie es eh und je getan hatte. Das Tageslicht war bereits beinahe zur Gänze geschwunden und immer wieder erkannte man Fackelzüge, Lichter aus der Ferne, denen die Tore der Feste geöffnet wurden. Die Präfekten und andere geladene Gäste reisten von allen Teilen des Kontinents her an, um den neuen Kindern der Fürstenfamilie die Ehre zu erweisen. Morgen Abend um diese Zeit würde das große Fest für die Prinzen und Prinzessinnen in vollem Gange sein. Ein Fest, für das sie das Nötigste getan und als Herrin der Feste ihre Pflicht verrichtet hatte. Ein Fest aber, dem sie wohl selbst fernbleiben würde. Noch haderte sie mit sich, was diese Frage anging. Immerhin war eine dieser neuen Prinzessinnen ein Mädchen, das offiziell ihre Enkeltochter sein würde. Ein adoptiertes Waisenkind, bereits zehn oder elf Jahre alt, das Dara'Jan und Adina als ihre eigene Tochter anzunehmen wünschten. Eine noble Geste, ein großer Schritt, der den Idealen des Hauses mehr als nur entsprach, das wusste sie sehr wohl. Etwas, worauf man stolz sein müsste.


    Und doch fühlte Iman'Dra in ihrem Inneren keinerlei Widerhall, wenn sie daran dachte. Wie es dieser Tage auch mit allem anderen zu sein schien, was sie früher berührt, sie stolz und froh gemacht hätte. Das Wachsen der Familie. Corums erstes Kind, ihren Neffen, den sie immer so besonders geliebt hatte. Selbst der alte Mogh'Tar würde nun offiziell ein Vater sein, wenngleich die Wahl der Mutter ein wenig... gewöhnungsbedürftig sein mochte, bedachte man, dass es sich offiziell um seine Großnichte handelte, wenn die beiden auch keinerlei Blut teilten. Und doch hatte sie auch Mogh'Tar immer geliebt, ihn als einen besonderen Freund gesehen, mit dem der Streit immer eher liebevoll und neckend gewesen war. Es gab etwas in ihr, das sich für ihn freuen wollte. Und für Corum, der so lange alleine gewesen war und jetzt eine Frau gefunden zu haben schien, die ihn glücklich machen konnte. Für D'Ankwar und Nina, denen viele Enkelkinder geschenkt wurden. Ein Teil von ihr sehnte sich danach, den Schritt hinein zu machen in das Licht und die Feuer der Großen Halle. Zurück in eine Position ehrlichen Respekts. Zurück in die Mitte der Familie.


    Ihr Gesichtsausdruck verschloss sich, sie presste die vollen Lippen zusammen, um ein schmerzhaftes Knurren in ihrer Kehle zu unterdrücken, als ihre Gedanken an diesem Punkt angekommen waren. Langsam, beinahe schwerfällig wandte sie sich schließlich von ihrem Platz an den Zinnen ab und stieg die Stufen ins Innere der Feste hinunter. Sie fühlte sich ausgelaugt, alt gar. Etwas, das ihr ein verächtliches Schnauben entlockte, als sie sich dessen bewusst wurde. Nicht einmal die Hälfte der Jahre, die sie leben konnte, hatte sie bereits hinter sich gebracht und aus purem Willen heraus straffte sie ihre Haltung, als sie weiter in die Feste hineinging, diese durchquerte, um schließlich aus einer Seitentür heraus nach draußen zu treten. Sie gestand sich keine Schwäche zu, schon gar nicht vor den Augen der Feste, die ihrer Herrin beständig folgten und nur darauf lauerten, einen schwachen Moment zu erhaschen, den sie gegen sie nutzen konnten. Nein, diesen Gefallen würde sie ihnen nicht tun. Noch war sie die Herrin dieser Burg, die Schwester des Epetai und eines der hohen Mitglieder der Fürstenfamilie Tron'Jenar, zudem eine gestandene Kriegerin, die ihr Gesicht zu wahren hatte, koste es, was es wolle. Selbst in ihren privaten Gemächern nahm das Gefühl, beobachtet zu sein, mehr und mehr zu in den letzten Wochen und so gab es nur einen Ort, an dem sie das Gefühl hatte, wahrlich sie selbst sein zu können. Fort von allen Augen und Ohren, von allen Fingern, die hinter ihrem Rücken auf sie zeigten und allen Stimmen, die im Schatten über sie flüsterten. Sie wusste sehr wohl, dass es all dies gab seitdem sie bei der Familie in Ungnade gefallen war.


    Ihre Schritte führten sie wissend und sicher an den Hauptwegen des Innenhofes vorbei, wo noch immer reger Betrieb herrschte und durch ein Nebentor in den Mauern hinaus auf das angrenzende Land. Ein Pfad, den sie früher sehr oft benutzt hatte, als sie sich noch aus der Feste hatte hinaus- und hineinschleichen müssen, damit ihr Bruder nichts von ihrer heimlichen und damals verbotenen Beziehung zu Henry mitbekam. Mehr als ein Vierteljahrhundert war seit jenen Tagen vergangen und doch fühlte sie noch immer einen Hauch von Leben und Freiheit, wenn sie jenen alten Weg benutzte, um sich davonzustehlen. Und auch heute trugen ihre Füße sie hinab an den Waldrand - doch im Gegensatz zu damals wartete heute dort nichts auf sie. Keine kleine, erleuchtete Schmiede, kein Lagerfeuer vor dem Häuschen, keine Holzstämme, auf denen der alte Schmied gesessen und seine Pfeife geraucht hatte. Keine Bilder aus Rauch, die seine Magie ihr hatte entgegenwehen lassen, sobald er ihre Gegenwart gespürt hatte. Keine weiße Wölfin, die, ihm zu Füßen, auf sie gewartet hatte. Nicht einmal mehr das Haus stand noch an der Stelle, an der es einst gewesen war. Alles hier, früher eine ganz eigene Welt und für viele Jahre ihr geliebtes Zuhause, war heute dunkel, tot und kalt.


    Still überquerte sie den Platz und ging noch ein Stück weiter in den Wald hinein bis sie unter einem der ältesten Bäume innehielt und sich langsam auf eine seiner mächtigen Wurzeln niederließ. Vor ihr, schon ein wenig verwittert und von der Natur gezeichnet, ragte ein kleines Steinkreuz aus dem Boden auf, welches sie vor beinahe 19 Jahren an dieser Stelle aufgestellt hatte. Zwar hatte es keinen Leichnam Henrys gegeben, den man hätte bestatten können, aber sie hatte damals getan, worum er sie gebeten hatte und seinen uralten Templer-Mantel und sein Schwert an dieser Stelle begraben. Es war das Nächste zu einer Gedenkstätte, was sie seit der Vernichtung der Schmiede noch hatte und in der Stille der aufkommenden Nacht lehnte sie ihren Kopf an die raue Rinde des Baumstammes an und streckte die Hand aus, um das steinerne Kreuz mit den Fingerspitzen zu streifen. Müde schloss sie die Augen und stellte sich vor, wie das Feuer der Schmiede sich auf ihrer Haut anfühlen würde, wie sich jener schwere Mantel, der hier begraben lag, um ihre Schultern legte. Eine kurze, flüchtige Erinnerung verriet ihr noch einmal etwas von Henrys Duft, eine fließende Ahnung nur, die so schnell verging, wie sie gekommen war.


    "Ich habe an dir versagt...", sprach sie schließlich leise in die Dunkelheit hinein. "Alles, was ich nach deinem Tod wollte, war dafür zu sorgen, dass dein Vermächtnis am Leben bleibt. Dass sie verstehen, wer du wirklich gewesen bist. Dass sie das ganze Bild sehen. Ich bin keine Närrin, Henry... ich weiß, was du getan hast. An mir, an Anderen. Ich habe es schon gewusst, als du noch hier warst. Nicht alles... nein. Du hattest deine Geheimnisse, auch vor mir, auch ganz am Ende noch. Dein größtes und schrecklichstes verfolgt mich noch heute. Aber... ich weiß auch, dass du mehr warst als das. Viel, viel mehr. Ich habe dich gesehen... genug, um dir zu helfen, einen Fluch zu brechen, der mehr als ein Jahrtausend lang bestanden hat, auch... auch wenn das bedeutet hat, dass du fortgehen musstest. Ich weiß, wie tief du geliebt hast. Wie tief du bereut hast. Dass deine Magie nicht nur Böses und Dunkles, sondern Wundervolles zustande bringen konnte. Dass du mehr warst als all die schrecklichen Taten, die sie alle konsequent an ihren Fingern abzählen bis diese bluten. Und ich... ich habe versucht, es ihnen zu sagen. Wieder und wieder. Es IHR zu sagen. Ihr klar zu machen, was für ein besonderes Wesen sie ist. Dass sie aus unserer Liebe und deinen Gebeten entstanden ist und dass es dein letzter Wunsch war, dass es sie geben mag. Dass du sie mehr geliebt hättest als ich je für sie in Worte habe fassen können. Dass sie stolz sein kann auf ihren Vater, auf ihr Blut, auf einen Mann, der vielleicht ein grausames, aber auch ein im gesamten Universum einzigartiges Leben gelebt hat. Sie war ein Wunder... und als sie noch ein Kind war, eine kleine Feengestalt, da hatte sie es verstanden. Das in ihren Augen zu sehen, war mein einziger Trost. Ich konnte dich sehen in ihren Augen, Henry... und wusste, dass es noch einen Sinn hatte, dass ich nach dir hier zurückgeblieben bin. Und jetzt..."


    Iman'Dra hielt inne, öffnete die Augen und starrte einen langen Moment blicklos ins Leere. Wären ihr Tränen gegeben, vielleicht würden sie jetzt fließen. Doch selbst für ein Knurren oder Schreien fühlte sie sich gerade zu leer und taub. Und müde. So, so müde. "Jetzt haben andere Stimmen die meine in ihr überschrien. Lilith trägt ihren Rachenfeldzug an dir über Dara'Jan aus und hat alles zerstört. Und ich sage nicht, dass sie nicht ein Recht hat, wütend auf dich zu sein. Dich vielleicht sogar zu hassen. Ich gestehe ihr zu, dass sie dir niemals vergeben muss für das, was du an ihr verbrochen hast. Aber sie hat kein verdammtes Recht dazu, Dara'Jan in ihre Entscheidungen hineinzuziehen! Dies ist ihre Geschichte, nicht die unserer Tochter... und nun hat sie ihr eingeredet, dass es ein Glück für sie ist, dass sie dich nie kennen lernen konnte! Sie nennt sie 'die Unberührte', weil sie vor deinem Zugriff bewahrt wurde und verdreht ihr mit ihrem Hass die Sinne! Wie Dara'Jan vor mir stand... so rechtschaffend, so überzeugt von all den Parolen und die Worte, die aus ihrem Mund kamen, waren nichts anderes als Liliths tausend Jahre alte Geschichten, geistlos wiederholt in ihrer eigenen Idee von Schwarz und Weiß und ich... ich kann ihr nicht vergeben, dass sie sich so einfach von dir abwenden kann... ohne dich auch nur zu kennen. Ich kann es nicht. Und so lange ich es nicht kann, so lange wird die Familie mich verachten. Das weiß ich. Ich kenne sie alle lange und gut genug. Und du... du hast es schon damals gewusst... dass sie mich, dass sie uns nicht verstehen, nicht wahr? Als sie uns verbieten wollten, zusammen zu sein..."


    Iman'Dra erinnerte sich lebhaft an diese Zeit. Gerade erst waren sie auf Auriga angekommen, hatten die Feste erbaut, Tron'Jenar hatte noch in den Kinderschuhen hier in der Föderation gesteckt... und es hatte D'Ankwar nicht gefallen, dass seine neue, junge Schwester, die frisch ernannte Herrin der Feste, mit dem eher argwöhnisch betrachteten, undurchsichtigen und einzelgängerischen, wenngleich genialen Schmied anbandelte, der als Verwandter seiner ersten Frau seinen Weg ins Haus gefunden hatte. Viel später erst hatte sie herausgefunden, dass er niemals mit dieser Frau verwandt gewesen war, ohne dass es noch eine Rolle für sie gespielt hätte. Sie war ihm längst verfallen gewesen. "Du hast mir angeboten, meinen Bruder zu töten, weil er uns nicht gestatten wollte, zusammen zu sein...", flüsterte sie. "Und heute würdest du es wieder tun, würdest du noch leben und sehen, dass sie mich alle schneiden trotz all der Jahre zusammen... und wieder würde ich dir sagen, dass du es nicht tun sollst, weil ich D'Ankwar und den Anderen zu viel verdanke. Und weil... weil ich sie alle noch immer liebe... auch wenn sie mich für eine Verrückte halten. Aber es... es wäre schön zu wissen, dass es noch jemanden gäbe, der hinter mir steht, wenn du noch bei mir wärst..." Es war besonders die Einsamkeit der letzten Wochen und Monate, die ihr langsam aber sicher zuzusetzen begann. Es gab in der gesamten Feste niemanden, der nicht zu Dara'Jan halten würde in dieser Sache und das wusste sie. Wie könnte sie auch nicht? Es war ihr von ihnen allen durchaus eindrucksvoll demonstriert worden. Aber sie konnte einfach nicht nachgeben. Es wäre ihr wie ein letzter, finaler Verrat an ihrem Mann vorgekommen.


    Lange Minuten schwieg sie, wissend, dass kein Wunsch und keine Sehnsucht es schaffen konnten, Henry wirklich wieder bei ihr sein zu lassen. Wenn sie eines gelernt hatte in den letzten fast zwanzig Jahren, dann war es mit Sicherheit das gewesen. "Morgen Abend findet seit langem wieder ein Fest in den Mauern Tron'Jenars statt", sprach sie schließlich leise weiter. "Der kleine Corum hat einen Sohn... und selbst Mogh'Tar ist Vater geworden. Und auch unsere Tochter hat mit ihrer Frau noch ein Mädchen adoptiert... eine zweite Enkeltochter für uns, egal, wie die Dinge stehen. Sie ist, was sie ist. Die Familie wächst und es wird gefeiert. Alle werden da sein. Und ich fühle mich nicht nach einer Feier, aber... ich werde das Gefühl nicht los, dass dieser Abend entscheidend sein wird. Es ist so eine dumme Ahnung... als könnte der morgige Abend noch einmal dafür sorgen, dass sich der Wind dreht, der Kurs ändert... ich weiß nicht, in welche Richtung, aber... so, wie es jetzt ist, kann es nicht bleiben." Sie atmete tief durch. Es war ihr, als läge ein schweres Gewicht auf ihrer Brust und egal wie, es wurde Zeit, dieses Gewicht loszuwerden. Langsam stand sie auf und sah noch einmal lange auf das Kreuz hinab, bevor sie auf ein Knie hinabging, sich vorneigte und den moosbedeckten Stein mit den Lippen berührte, ihn küsste. "Ich liebe dich", hauchte sie. "Ich werde dich immer lieben. Es ist mir egal, was sie sagen, was sie denken... ich liebe dich." Und dann wandte sie sich um und ging bedächtigen Schrittes zur Festung zurück, wo sich der Tumult inzwischen beruhigt hatte und die Nachtruhe eingekehrt war. Auf dem gleichen Schleichweg wie zuvor betrat sie das Gelände und verschwand nach oben in ihre Gemächer.

    Iman'Dra Tai Tron'Jenar
    Herrin der Feste


    "There is much to be learned from beasts."


    "All we are, all we are, we are. We are all, all we need."


    "The princess, she is a river filled with tears of sadness and heartbreak."