Eine tiefe Stille umgab Ishika, während sie den Weg der Seen entlang schritt. Kühles, taufeuchtes Gras strich an ihren nackten Füßen entlang und als sie das Ufer des ersten Sees erreichte und auf das Wasser und den gewundenen hölzernen Steg sah, der sie über den gesamten See auf dessen andere Seite führen würde, atmete sie tief durch und schloss die Augen. Über ihr sangen Vögel in blühenden Bäumen, der Wind war sanft, die Naturdüfte, die sie umgaben, mild. Es war ein perfekter Tag. Noch.
Mit geschlossenen Augen setzte sie nun den ersten Fuß auf den Steg und begann langsam und achtsam weiter zu gehen. Für diesen Moment hatte sie keine Wahl, als ganz bei sich und dieser Übung zu sein. Die Windungen des Stegs waren zwar auf eine regelmäßige Art konstruiert worden, sodass man durch das Zählen der Schritte wissen konnte, wann man die Richtung ändern musste, dennoch war es eine Aufgabe, die dem sonst an die Benutzung aller seiner fünf Sinne gewöhnten Gehirn viel Disziplin und ein wenig Überwindung abverlangte. Der eingeschlagene Winkel musste bei einem Richtungswechsel immerhin ebenso stimmen wie die Zahl der Schritte und auch die geringe Breite des Stegs von nur knapp einem Meter wollte bedacht sein. Hochkonzentriert setzte Ishika ihre Schritte. Ihre Atemzüge waren tief und sie nutzte deren Regelmäßigkeit, um ihren Gang deren Rhythmus anzupassen. Nur ein Fehler und sie würde ins Wasser stürzen.
Nun war es endlich still in ihr. Dringend hatte sie dies gebraucht, dringend hatte sie sich in eine solche Situation bringen müssen. Eine Situation, die die Echos vorwurfsvoller Stimmen in ihr zum Schweigen brachten. Eine Situation, die sie von dem Gefühl des Versagens reinigen konnte. Eine Situation, die frei war von dem Gedanken an die Mörderin, die die Militärpsychologen, welche ihr unterstanden, in das Corps gelassen hatten ohne auch nur im Ansatz den Verdacht zu hegen, dass diese Frau gefährlich sein könnte.
Unmittelbar nachdem der Vorfall vor Gericht und das letztendliche Urteil in der Öffentlichkeit Bekanntheit erlangt hatten, war Kritik von allen Seiten auf Ishika und ihre Abteilung eingeprasselt. Nicht nur Kritik an den psychologischen Tests, die die Kandidaten für die Spezialkräfte mit Erfolg abzulegen hatten, bevor sie ins Corps eintreten konnten und die offenbar dennoch nicht verhindert hatten, dass eine solch emotional labile Person einen Weg hinein geschafft hatte - damit allein hätte Ishika umgehen können - sondern ebenso an ihrem Vorgehen auf Corsho. Es waren Vorwürfe laut geworden, die behauptet hatten, man habe mit Absicht nicht auf die Krankheit reagiert, habe die Bewohner der Kolonie als Versuchskaninchen für die neuste biologische Waffe missbraucht. Commodore Fey, die Befehlsverweigerin, war von vielen zur Heldin hochstilisiert worden, was durch ihren Aufenthalt im Gefängnis nur verstärkt wurde. Es gab Leute, die eine Märtyrerin in ihr sehen wollten - die Mutter, die sich mit den grausamen Machenschaften des Militärs nicht hatte abfinden können, ihnen ihr Kind nicht hatte opfern wollen und die im Zuge dessen über 2000 Kranken das Leben gerettet hatte. Ishika indes hatten diese Stimmen als kalte Soldatin verrissen, die ohne Regung eines schlechten Gewissens die ganze Kolonie hatte krepieren lassen wollen, obwohl sie nur ihre Pflicht erfüllt hatte. Wie jeden verdammten Tag.
Doch diese Gedanken waren nun weit fort. Alles was hier zählte waren der Wind in ihrem Haar, das leise Rauschen des Wassers um sie herum und die richtig gesetzten Schritte, um ihre selbst gestellte Aufgabe zu erfüllen. So dachte sie zumindest, als ein Geräusch sie plötzlich innehalten ließ. Sie befand sich nun etwa auf der Mitte des Sees und außer dem Steg selbst gab es nichts als Wasser um sie herum. Und doch konnte sie Schritte hören. Schritte, die hastig näher kamen. Ebenso vernahm sie gleich mehrfach jenes unverkennbare metallene Scharren, das entstand, wenn ein Katana aus seiner Saya gezogen wurde. Ishika musste es in den letzten zwanzig Jahren tausende Male gehört haben und so legte sich ihre Hand auf den eigenen Schwertgriff. Mit geschlossenen Augen blieb sie stehen und wartete.
Vor und hinter Ishika waren aus dem Nichts je drei Krieger aufgetaucht, die nun mit gezogenen Waffen auf sie zustürmten. Kurz vor dem Aufprall riss die bis dahin völlig still dastehende Frau jedoch ihr Katana hervor, glitt in einer einzigen Bewegung in den Ausfallschritt der Kampfhaltung und parierte den ersten Schlag des Kriegers vor sich zielgenau. Sie nutzte den dabei entstandenen Schwung, zwang ihn mit einem raschen Schritt nach vorne zum Zurückweichen und stieß ihn dann vom Steg. Im selben Moment fuhr sie herum, stieß das Schwert senkrecht nach vorne und der Gegner, der zuvor hinter ihr gewesen war und sein Katana von hinten zum Schlag gegen sie erhoben hatte, erstarrte, als die Klinge sich in seinen Unterleib bohrte. Er röchelte leise, dann sackte er zusammen und fiel ebenso vom Steg hinab ins Wasser.
Blieben noch vier. Ishika hatte einen Sekundenbruchteil zu lange gebraucht, um das Schwert aus ihrem geschlagenen Gegner wieder hervorzuziehen, sodass der Nächste sie von hinten zu fassen bekam, einen Arm um ihren Hals schlang und zudrückte. Ihr Kehlkopf protestierte schmerzhaft und die Luft blieb ihr weg. Einem spontanen Impuls folgend hätte sie beinahe die Augen geöffnet, doch das wäre ein Versagen, das sie nicht bereit war, hinzunehmen. Nicht jetzt, wo alle Welt an ihr zweifelte. Stattdessen tat sie, was man mit unangenehmen Situationen immer tun sollte - sie nutzte sie zu ihrem Vorteil.
Ishika stemmte sich gegen den Mann, der sie im Schwitzkasten hielt, griff um ihn herum, um sich noch mehr Halt zu geben und sprang, sodass sie mit beiden Beinen in die Waagerechte kam. Kraftvoll trat sie zu und der Krieger, der direkt vor ihr gerade den Versuch unternehmen wollte, ihr endgültig den Garaus zu machen, taumelte zurück, knickte mit dem Fuß an der Kante des Stegs um, fiel und versank ebenso im See. Derjenige, der Ishika hielt, wurde durch den Rückschlag des Tritts aus dem Gleichgewicht gebracht und stürzte, sodass sie mit dem Rücken auf ihm landete und die Gunst der Stunde nutzen konnte, um sich von ihm zu befreien. Sie sprang auf, griff ihr Katana fester, wirbelte herum und schlug ihm den Kopf ab, als sie hörte, dass er sich auf die Knie quälte.
Zwei Gegner waren noch übrig. Sie kesselten sie ein und einen Moment lang rührte sich keiner der drei Samurai, die einander nun mit gezogenen Schwertern belauerten. Es wurde still - und dann ging plötzlich alles unglaublich schnell. Beide Männer stürmten gleichzeitig auf sie ein und sie machte den einen Schritt zur Seite, den sie machen konnte ohne ins Wasser zu stürzen, kam mit einem Fuß auf der Kante des Stegs auf, drehte sich und kam in den Rücken des Einen. Mit einem schnellen, gezielten Streich in Höhe der Nieren setzte sie ihn außer Gefecht. Der letzte Gegner sprang derweil über den Gefallenen hinweg und drang mit seiner Waffe auf sie ein. Sie versuchte zu parieren, doch im direkten Zweikampf mit den Katana war ihre selbst gewählte Blindheit eine wahre Schwäche und die Parade misslang ihr. Die Klinge streifte sie, riss ihren Kimono auf und ließ sie bluten, doch sie sprang rechtzeitig zurück, um nicht ernsthaft verletzt zu werden. Unter dem nächsten Schlag duckte sie sich weg, glitt in derselben Drehung auf die Knie und jagte ihre Klinge unter ihrem Ellbogen hindurch, als der Gegner auf die Kniende einstürmen wollte. Er sah zu spät, was sie vorhatte und lief frontal in die Klinge hinein. Ishika hörte ihn einen Moment keuchen, dann brach er zusammen - und verschwand. Ebenso wie die Anderen.
Ishika atmete tief durch und erhob sich langsam. Sie führte das Tchiburri durch, die traditionelle Bewegung, um das Blut von der Klinge zu schleudern und steckte das Katana dann in die Saya. Es war vorbei. Doch ihre Augen blieben weiterhin geschlossen. Es galt, den Weg zum anderen Ufer zu beenden.
Eine halbe Stunde später verließ Ishika das Holodeck. Die Übung war ein Erfolg gewesen, was ihrem Geist zu ein wenig mehr Ruhe verholfen hatte. Auch körperlich fühlte sie sich durch die Bewegung, die sie in den letzten zwei Stunden bekommen hatte, deutlich wohler. Diesen Effekt hatte sie in beiderlei Hinsicht erreichen wollen, denn nun galt es sich fertig zu machen. In einer Stunde würde das Schiff der Präsidentin vom Shepard Space Center abdocken und sich auf den Weg nach L'Lal'Loria machen und sie, Ishika, würde als militärische Beraterin mit an Bord sein. Dieser Gedanke entlockte ihr ein Lächeln.
Bald. Bald würde sie Amano sehen. Sie wusste, dass ein Wiedersehen mit ihm allen Druck von ihr nehmen würde, auch wenn sie dienstlich dort sein und es mit Sarah und Nanami auch privat einige Dinge zu regeln geben würde. Doch das schreckte sie nicht. Es gab immer irgendetwas zu tun, immer irgendetwas zu regeln. Wahre Freizeit war in ihren jeweiligen Positionen selten und selbst dann wollten Familie, Freunde und natürlich die Angelegenheiten des Samuraiklosters von Shizuoka beachtet werden. Es gab keine Freizeit vom Lebensweg des Bushido, den sie beide für sich gewählt hatten und keiner von ihnen würde sie wollen. Ein Weg des ewigen Dienens und Gehorchens. Des ewigen Strebens nach Perfektion. Es war ein Weg, der ihnen alles abverlangte und Amano und Ishika hatten gelernt, die wenigen Momente des Friedens und der Zweisamkeit entsprechend zu genießen und intensiv zu nutzen. Sie wusste, dass es auch diesmal so sein würde und dass es genau das war, was sie nun brauchte, um sich zu trösten und wieder zu fangen für die Herausforderungen, die die nahe Zukunft bringen würde. Gestärkt durch die Gewissheit, dass die Pflicht vor allem anderen stand und dass sie auf Corsho getan hatte, was jeder gute Samurai getan hätte. Amano würde ihr schon sagen, ob sie einen Fehler gemacht hatte und nur wenn er einen solchen in ihrem Handeln erkennen konnte, musste sie die Kritik berühren, die man an ihr übte. Doch sie ahnte, dass dem nicht so sein würde. Ein Fehler wäre es nur, sich den auf sie zeigenden Fingern und den missbilligenden Worten zu ergeben. Es galt, stark und fest in ihren Überzeugungen zu bleiben und für diese einzustehen.
Mit diesen Gedanken betrat sie eine knappe Stunde später das Schiff der Präsidentin, meldete sich vorschriftsmäßig zum Dienst und sah zu, als dieses startete und sich langsam von Shepard entfernte. Sie hatten eine weite Reise vor sich.